Sofort ist sie wieder da: Die Gänsehaut. Wenn der Startbildschirm erscheint und die bekannte «Halo»-Titelmelodie mit Chorgesang durch das Zimmer halt, werden wir sofort mit einem wohligen Schauer übergossen. Noch bevor wir auf Start drücken ergeben wir uns dem klanglichen Sog und machen uns bereit für ein neues Abenteuer mit dem Master Chief.
Lange genug hat es ja gedauert. Eigentlich war das neuste Kapitel für den Launch der neuen Xbox-Konsole im vergangenen Jahr vorgesehen, aber grafisch war da noch viel Luft nach oben und auch sonst waren die Machenden noch nicht so ready wie sie hätten sein sollen. Also wurde das Vorzeigespiel kurzerhand um ein Jahr verschoben. Gut Ding will ja Weile haben und der Fan machte zwar die Faust im Sack, blieb aber auch gleichzeitig optimistisch, dass da etwas ganz Grosses auf dem Weg ist.
Nun ist der Hüne in Grün also endlich da und wartet darauf, uns auf eine neue Reise mitzunehmen. «Halo Infinite» knüpft an den letzten Titel «Guardians» von 2015 an und bringt uns mitten in einen neuen Konflikt, der wiedermal das Schicksal der gesamten Menschheit als dramaturgischer Pfeiler im Gepäck hat.
Ohne Aufklärung werden wir direkt ins kalte Wasser geworfen: Was ist nochmals im Vorgänger passiert? Warum sind wir jetzt da, wo wir sind? Und welche feindlichen Mächte haben sich jetzt wieder mit wem verschworen? Fragen über Fragen, die «Halo Infinite» vorerst nicht beantwortet.
Nichtkenner verstehen nur Bahnhof. Wer mit «Infinite» sein erstes «Halo»-Spiel konsumiert, muss sich damit abfinden, dass Fragen vielleicht später beantwortet werden. Doch auch wer sich mit der Franchise bestens auskennt, muss erstmal innehalten, nachdenken und das eine oder andere im Netz nachlesen. Aber nun gut, wir wollen zu Beginn beide Augen zudrücken, denn hey, der Master Chief ist endlich zurück!
Und wie er zurück ist. Gleich zu Beginn wird ein Feuerwerk nach dem anderen gezündet. Die vertraute Steuerung setzt uns ein Lächeln aufs Gesicht, die bekannten Soundeffekte, Musikstücke und Gegner sorgen zusätzlich dafür, dass das Grinsen immer grösser wird.
Ach, wie haben wir den Chief vermisst. Sofort ist man ihm nicht mehr böse, dass die Rückkehr so lange gedauert hat. Auch die offenen Fragen und die Verwirrtheit werden beiseite geschoben.
Denn schnell und simpel wird uns klar gemacht, dass da eine neue Alienrasse, die sogenannten Verbannten, böse Dinge vor hat, auf einer Ringwelt sich breit gemacht hat, wild um sich herumballert und jetzt der neue Platzhirsch ist. Warum genau und wie das alles mit der mittlerweile riesigen «Halo»-Mythologie zusammenhängt, ist schnell einfach auch komplett egal.
Ballermänner greifen, losstürmen und sich in schicken Levels den Gegnerhorden stellen. Mit einem Greifhaken können wir uns jetzt sogar über Abgründe hinwegziehen, Gegenstände und Waffen zu uns holen, Gegner nerven und erleben so den Master Chief agil wie noch nie. Alles ganz toll. Die Geschichte nimmt ihren Lauf, wir bekommen einen menschlichen Sidekick mit auf den Weg und eine neu KI gibt uns immer wieder die nötigen Hinweise und Storyinhalte, die wir brauchen, damit wir uns orientieren können.
Doch dann, dann kommt das grosse Kopfschütteln. Wie schon oben kurz erwähnt, kann sich das neuste «Halo»-Abenteuer leider nicht von der Openworld-Seuche abwenden. Das bedeutet, dass man sich zwar immer noch von Mission zu Mission hangeln darf, um die Kampagne zu erleben, doch auf der Karte warten jetzt auch Nebenmissionen, die freiwillig abgehackt werden wollen.
Feindliche Gebiete säubern, Komandoposten erobern, Gegenstände suchen und hie und da ein paar wichtige Dokumente, die mehr Hintergrundinfos parat haben, konsumieren – das Einmaleins der Openworld halt.
Die offene Spielwelt wäre an sich gar kein Problem und darf durchaus ihre Existenzberechtigung in einem Videospiel besitzen, doch die präsentierten Inhalte sind schlicht viel zu langweilig und komplett belanglos. Ohne grosse Liebe zum Detail werden hier simple Missionen auf der Karte verteilt, dass sofort der Eindruck geweckt wird, dass irgendjemand in der Chefetage an einem Meeting übermotiviert danach geschrien hat.
Natürlich kann diese offene Spielwelt komplett ignoriert werden, aber es schmerzt auch immer wieder, wenn die Karte erblickt wird, dass hier den Fans nach langer Wartezeit nicht doch etwas Substanzielles präsentiert wurde. Da hätten es die Machenden doch auch gleich sein lassen und stattdessen der Kampagne noch mehr Substanz verleihen können. Dann ist diese fakultative Spielwiese auch noch grafisch keine Augenweide, sondern präsentiert gefühlt immer wieder dieselben Bauten und Hintergründe.
Aber gut, wir wollen jetzt tolerant bleiben und uns dem widmen, was «Halo» gross und zum Systemseller gemacht hat: Die Action und die dichte Atmosphäre. Und da serviert «Infinite» ein opulentes Mal und beweist wiedermal wie gross und auch wichtig diese Marke für Microsoft ist. Denn «Halo Infinite» ist so ein Spiel, das in einem Rutsch weggespielt werden möchte.
Der Feierabend kann gar nicht früh genug eintreten und wir rennen regelrecht nach Hause, um dann so schnell wie möglich wieder in diesem grandiosen Universum einzutauchen. Klar, es gibt da auch noch den Multiplayer und allerlei zeitgenössischen Schnickschnack, aber das Herz ist und bleibt immer noch die Kampagne, die uns eine weitere actiongeladenen Gaudi dieser liebgewordenen Marke anbietet.
Fazit: Die Kampagne von «Halo Infinite» fühlt sich jederzeit saugut an und bietet während ca. zwölf Stunden genau das, was wir schon seit vielen Jahren an dieser Spielemarke so sehr lieben. Der Master Chief sah noch nie so schick und scharf aus, die Kulisse samt packenden Gefechten darf sich wiedermal sehen lassen und zusammen mit dem wunderschönen Soundtrack ergibt sich ein Action-Gesamtpaket, dem man sich als Shooter-Fan nicht entziehen kann.
Ein fader Beigeschmack hinterlässt jedoch diese Pseudo-Openworld, die wirkt, als sei sie ohne grosse Inspiration und Liebe zur Marke einfach drüber gegossen worden. Nein, wirklich tolle Dinge gibt es da nicht zu entdecken und die Nebenmissionen lassen Originalität vermissen und wurden lieblos in die Welten geworfen.
Schade eigentlich, denn das «Halo»-Universum hätte genügend Potenzial abseits der Hauptstory mit guten Zusatzinhalten zu punkten. Doch sind wir ehrlich: Ein «Halo» braucht eigentlich gar keine Openworld. Wir wollen geradlinige Action in einem tollen Setting, die uns eine gute, einigermassen nachvollziehbare Geschichte mit viel Bums erzählt. Das reicht uns völlig und das wird uns mit «Infinite» auch serviert, sofern wir diese halbgare Openworld einfach links liegen lassen.
«Halo Infinite» ist erhältlich für Xbox Series X/S, Xbox One und PC. Freigegeben ab 16 Jahren.