«Berlin ist kaputt»: Dieser schwule Schweizer zieht nach 30 Jahren wieder nach Luzern
Schon in den 1920er-Jahren galt die Gegend um den Nollendorfplatz im Westen Berlins als bevorzugter Treffpunkt von Homosexuellen; in der Nazi-Zeit verschwand die Szene in den Untergrund, nach dem Krieg blühte sie wieder auf. Wer in der westdeutschen Provinz mit ihren oftmals rigiden Moralvorstellungen gleichgeschlechtliche Neigungen verspürte, für den war West-Berlin ein Fluchtpunkt. Seit einigen Jahren leuchtet die Kuppel des U-Bahnhofs, der hier als Hochbahnstation über der Erde liegt, in den Farben des Regenbogens: Das offizielle Berlin ist stolz auf eine Tradition, die es früher verschämt verschwiegen hätte.
Wenige hundert Meter südlich der Bahnstation, in der Eisenacher Strasse, liegt das Geschäft des Schweizer Make-up-Artisten Beni Durrer, der seit fast dreissig Jahren im Quartier lebt. Kürzlich haben der 57-Jährige und sein deutscher Ehemann René Durrer-Lehmann, 58, dem lokalen Boulevardblatt «B.Z.» erzählt, sie wollten nach Luzern ziehen, in die Heimatstadt Durrers. Für Schwule sei Berlin kein guter Ort mehr.
Arabische Clans geben den Ton auf der Strasse an
«Ihr seid ja mutig», habe ihm einer gesagt, nachdem der Bericht erschienen sei, doch hätten sie auch Drohungen erhalten, erzählt Beni einige Tage später bei einem Treffen in seinem Laden. «Gut, dass ihr geht, bald regiert hier der Islam», habe in einem Schreiben gestanden.
Es ist kurz nach Feierabend. René, ein Coiffeur, hat eben einen letzten Kunden bedient. Nicht alle wollten über die Probleme reden, sagt Beni. «Manche tun lieber so, als ob nichts wäre», erklärt René. Befreundete Künstler sagten ihm, nicht alle Zugewanderten seien Schwulenhasser, und das stimme ja auch: Mohammed, ein Marokkaner, der seit 17 Jahren in Deutschland lebe, habe ihn angerufen und gesagt, er schäme sich für manche seiner Landsleute. Und ein Iraner habe ihn stellvertretend für die muslimischen Migranten um Entschuldigung gebeten.
Es ist eine Geschichte vom Wandel der Stadt, die Beni und René erzählen – und eine von gesellschaftlichem Rückschritt. Vor dreissig Jahren, so Beni, habe er seinen Umzug nach Deutschland als Befreiung empfunden. In Luzern sei er streng katholisch erzogen worden. In Bern, wo er später gelebt und als Barkeeper im Hotel Bellevue Palace gearbeitet habe, sei ihm die schwule Szene allzu überschaubar gewesen.
Die meiste Zeit überlässt der Luzerner, ein eher bedächtiger Mann, das Reden seinem Partner. Der, ein gebürtiger Berliner, erzählt, wie sich das Quartier verändert hat. Arabische Clans gäben auf der Strasse den Ton an. Wer als Homosexueller zu erkennen sei, werde aggressiv gemustert, angepöbelt oder sogar angegriffen. «Du schwule Sau, ich stech dich ab», heisse es dann etwa. Hand in Hand liefen sie schon lange nicht mehr herum, sagt René, «aber wenn ich ihn auf der Strasse begrüsse, will ich ihn küssen können, schliesslich ist er mein Mann».
Robustes Rencontre an der Dönerbude
Das Stadtbild um den Nollendorfplatz hat sich in den letzten Jahren gewandelt: Wo früher Schwulenbars waren, befinden sich jetzt oft Shisha-Lokale; dass die Etablissements kriminellen Clans gehören, gilt in Berlin als offenes Geheimnis. Teilweise sind die Veränderungen auch dem Aufkommen des Internets geschuldet: Brauchten Homosexuelle früher Treffpunkte, um einander kennenzulernen, haben sie nun das Netz. Und wer schwul oder lesbisch ist, muss nicht mehr unbedingt in die Grossstadt ziehen: Deutschland ist insgesamt toleranter geworden.
Doch nicht überall: In Berlin scheinen Errungenschaften, die einmal mühsam erkämpft werden mussten, wieder in Gefahr zu sein. Zwar sei er auch in den Achtzigerjahren, als junger Mann, «das klassische Opfer» gewesen, erinnert sich René: Einmal sei er von rechtsextremen Skinheads angegriffen worden, ein anderes Mal von Türken.
Nun habe er zwar nicht jeden Tag Ärger, aber doch immer wieder. Komme er spät nach Hause, trage er oft einen Schlüssel zwischen den Fingern, um im Notfall wirkungsvoller zurückschlagen zu können.
René scheint ein Mann zu sein, der sich nichts gefallen lässt. Nachdem er vor einer Dönerbude angerempelt und beschimpft worden sei, habe er den Übeltäter gepackt und gegen die Wand gedrückt. «Jetzt grüsst er mich freundlich.» Er habe eine grosse Klappe, sagt René über sich selbst.
Die Gewalt gegen Homosexuelle nimmt zu
Die beiden Männer berichten von Clanmitgliedern, die ihr Auto aufgebrochen hätten, von einer Polizei, die oft zu spät komme und dann nichts unternehme, und von einer Justiz, die Übeltäter frei herumlaufen lasse, selbst wenn diese mehrfach kriminell gehandelt hätten. Ihre Auszubildenden würden immer wieder auf dem Heimweg belästigt, erzählt René. Manchmal, vor allem abends, begleite er seine Kundinnen lieber bis zur U-Bahnstation. «Berlin ist kaputt», wirft Beni ein.
Die Zahl der Straftaten gegen Lesben, Schwule und Transsexuelle ist in Deutschland seit 2014 fast jedes Jahr gestiegen; gewalttätige Übergriffe kamen letztes Jahr fast siebenmal so oft vor wie zehn Jahre zuvor. Dabei sind es nicht nur Zuwanderer aus muslimischen Ländern, vor denen sich Homosexuelle fürchten müssen: Auch Rechtsextreme pflegen ein Bild von männlicher Stärke, in dem Schwule und Lesben zum Feindbild werden. Vor allem in ostdeutschen Städten marschieren mittlerweile regelmässig Neonazis auf, wenn Homosexuelle den Christopher Street Day begehen.
Beni Durrer und René Durrer-Lehmann wollen Deutschland nicht nur wegen der raueren Sitten verlassen. Die Steuern seien hoch, und in der Krise würden Beauty-Produkte und Make-up für viele zum verzichtbaren Luxus, berichtet Beni. Sein kleinerer Laden in Luzern, den er im Oktober eröffnet habe, subventioniere mittlerweile das Berliner Geschäft. Wegen ihrer sieben Mitarbeiter und ihrer Stammkunden wollten sie noch ein paar Monate ausprobieren, ob sie ihr Berliner Standbein halten könnten. Sollten sie schliessen, wäre es das Ende von «Beni Durrer Beauty» in Berlin – nach fast 25 Jahren im Stadtteil Schöneberg.
Auch andere schwule Paare wollen die Stadt verlassen
Derzeit pendeln Beni und René noch zwischen Berlin und Luzern hin und her, doch in absehbarer Zeit wollen sie ganz in die Schweiz ziehen. Die einzigen Schwulen, die die Stadt verlassen wollten, seien sie nicht, erzählt René. Sein bester Freund und dessen Ehemann zögen demnächst nach Spanien, und auch andere Paare berichteten von Umzugsplänen.
«Es fühlt sich leicht an, zu gehen», sagt René. Beim Umzug sei eher er die treibende Kraft, erklärt der Berliner. In Luzern habe er sich nie bedroht gefühlt.
So scheint aus einem Ort der Toleranz ein Ort der Enge geworden zu sein – und aus einem der Enge einer der Toleranz. «Heute», so sagt Beni Durrer, «fühle ich mich in der Schweiz freier.»
