Bei Caz ist die Gesamtsituation alles andere als optimal: Der Schotte ist auf eine Bohrinsel in der Nordsee geflüchtet, um dort dem Gesetz zu entkommen. Seine Frau findet das gar nicht gut und droht mit der Scheidung. Der Elektriker steht somit kurz davor, sein soziales Leben komplett zu verlieren. Er vermisst seine Frau und seine Kinder enorm, doch diverse Gründe zwingen ihn dazu, dass er vorerst auf dem Stahlkoloss bleiben muss.
Als ihn dann auch noch sein Boss ohne Vorankündigung seines Amtes enthebt, steht er vor einem grossen Scherbenhaufen. Doch es kommt noch schlimmer: Die Mitarbeitenden sind mit ihrem mächtigen Bohrer in der Tiefe auf etwas gestossen, das den Stahlkoloss einnimmt und in einen Albtraum verwandelt. Alle persönlichen Probleme von Caz wandern sofort in den Hintergrund, denn nun gilt es zu überleben und irgendwie von der Bohrinsel zu entkommen.
So rennt unser Handwerker von einer Sackgasse in die nächste. Er quetscht sich durch enge Gänge und Lüftungsschächte, repariert hie und da ein Gerät, sucht den Kontakt zu anderen Kolleginnen und Kollegen und versucht zu verhindern, dass die Bohrinsel nicht gleich in die Luft fliegt oder komplett untergeht. Eine Flucht scheint vorerst also nicht möglich und die Hoffnungslosigkeit wird immer grösser.
Zu den mechanischen Problemen gesellen sich auch noch aggressive Mitarbeitende hinzu, die mit dem unheimlichen Ding aus der Tiefe in Berührung kamen. Fleischige Mutanten mit langen Tentakeln stöhnen, schreien und kriechen durch die düsteren Gänge und machen Jagd auf Caz. Der Überlebenskampf nimmt seinen Lauf.
Ist es bei vielen Survival-Horror-Spielen üblich, dass sich der Held mit Schuss- und Stichwaffen zur Wehr setzen kann, geht hier «Still Wakes the Deep» komplett in die andere Richtung. Unser Schotte hat weder eine Waffe, noch kann er sich aktiv gegen die Unholde zur Wehr setzen.
Zwar hat er einen Schraubenzieher bei sich, doch dieser dient nur dazu, um eben Schrauben zu lockern oder Schlösser aufzubrechen, um den Weg fortzusetzen. Verstecken und rennen sind somit die einzigen Möglichkeiten, um überleben zu können.
Caz ist den Dingern also hilflos ausgeliefert und muss bei einer Konfrontation genau überlegen, wie er reagieren soll. Ab und an kann er Gegenstände vom Boden aufheben und diese in eine Ecke werfen, um die Ungetüme abzulenken. Das ist aber auch schon alles, was er an Interaktion drauf hat.
Die zu Beginn gleich einsetzende Hilflosigkeit überträgt sich sofort auf die Spielenden und sorgt für Nervenflattern. Nirgendswo fühlt man sich sicher. Ein fleischgewordener Albtraum kann jederzeit irgendwo hervorkriechen und schreiend nach Konfrontation suchen.
Ist man mal in Abschnitten unterwegs, wo sich kein Ungetüm aufhält, sorgt die Level-Struktur für zusätzlichen Horror: Die Gänge sind eng und schwach ausgeleuchtet, Räume sind düster und beklemmend und je tiefer man in der Bohrinsel nach unten steigt, desto mehr sorgen überflutete Räumlichkeiten und die damit einhergehende Orientierungslosigkeit für zusätzlichen Stress. Im Verlaufe des Spiels bekommt unser Schotte zwar eine Lampe verpasst, doch auch diese kann nicht immer verhindern, dass man manchmal nicht mehr weiss, wo oben und unten ist.
«Still Wakes the Deep» ist sehr linear aufgebaut. Ihr werdet brav an der Hand genommen und wisst immer, wohin ihr euch als nächstes begeben müsst, damit die Geschichte weitergeht. Auf dem Weg zum nächsten Abschnitt, sprich zur nächsten Mission, wo irgendwas gewerkelt oder ein Hebel umgelegt werden muss, könnt ihr euch kaum verlaufen. Kurze Unterwasser-Levels, die euch mit Orientierungslosigkeit terrorisieren, sind glücklicherweise die Ausnahme.
Trotz klarer Regeln und Ziele gibt es aber immer wieder Trial-and-Error-Momente, die euch lautstark fluchen lassen. Obwohl ich beispielsweise weiss, dass ich jetzt unbedingt und sehr schnell fliehen muss, will die Steuerung nicht immer so, wie sie eigentlich sollte und der Bildschirmtod wird zum ständigen Begleiter. Das nervt gewaltig. Hat man solch frustrierende Passagen aber endlich geschafft, ist das Erfolgsgefühl dafür immens. Der Stinkefinger in Richtung Bildschirm wird aber dennoch erhoben.
Ja, die Spielmechanik überzeugt nicht immer und frustrierende Passagen mindern den Spielspass. Doch auf der Habenseite steht ganz gross die Atmosphäre, die euch in diesem Videospiel stark umklammert und bis zum kryptischen Abspann nicht mehr loslässt. Die Optik ist zwar minimalistisch, wiedergibt aber immer ein schaurig schönes Bild dieses Stahlkolosses, der immer mehr von einer fremden Macht eingenommen wird und zerfällt.
Zur wunderschönen Horror-Atmosphäre trägt auch unser Protagonist bei. Auch wenn wir ihn wegen der Ego-Perspektive nie zu Gesicht bekommen, lernen wir seine Gefühlswelt und sein Wesen bestens kennen. Caz hat Scheisse gebaut, aber ist dennoch ein guter Mensch. Er liebt seine Familie über alles und lässt auch seine Mitarbeitenden nicht im Stich. Und er flucht. Jederzeit. In gefühlt keinem anderen Videospiel wurde jemals so viel und so intensiv geflucht wie hier. Wenn der Schotte dann auch noch in seinem herrlichen Akzent die verbalen Ausbrüche rauslässt, ist das ein Genuss für die Ohren.
Fazit: «Still Wakes the Deep» des Entwicklers The Chinese Room, ein kleines Studio aus Brighton, hat mich sofort gefesselt. Das unverbrauchte Setting, viel Horror-Mysterie und eine bodenständige Spielfigur, die einem schnell sympathisch wird, haben mich überzeugt.
Die klaustrophobe Level-Struktur, das Gefühl der Hilflosigkeit und der Verzweiflung und der innige Wunsch, diese sterbende Bohrinsel endlich verlassen zu können, sorgen für einen wunderschönen Spielrausch, den ich trotz einiger Frustpassagen nicht missen möchte.
Nach etwa fünf Stunden ist der Trip zwar schon vorbei, aber das ist auch gut so. Denn so stressig und schweisstreibend war ein Horror-Spiel schon lange nicht mehr.
«Still Wakes the Deep» ist erhältlich für Playstation 5, Xbox Series X/S, Xbox Game Pass und PC. Freigegeben ab 16 Jahren.