Erfolgreiche Beschwerde gegen digitale Überwachung durch Schweizer Geheimdienst
Die grenzüberschreitende Funk- und Kabelaufklärung durch den Nachrichtendienst des Bundes (NDB) ist in der derzeitigen Form nicht mit der Bundesverfassung und der Menschenrechtskonvention vereinbar. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden.
Das Urteil umfasse mehr als 200 Seiten, schrieb der Rechtsanwalt und Sprecher der Digitalen Gesellschaft Schweiz, Martin Steiger, in einer ersten Reaktion am Dienstagmorgen bei LinkedIn.
Gemäss Urteil sei «die Funk- und Kabelaufklärung mit Ablauf einer Frist von fünf Jahren seit Rechtskraft des vorliegenden Urteils einzustellen, sollte innert dieser Frist kein mit der Bundesverfassung und der EMRK konformer Zustand hergestellt worden sein.»
Warum ist die Überwachung nicht zulässig?
Laut Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist nicht gewährleistet, dass der NBD «nur erhebliche und richtige Daten» bearbeitet. Das anwendbare Recht enthalte keine Vorkehrungen zum Schutz von journalistischen Quellen und anderer besonders schützenswerter Kommunikation wie jener zwischen Rechtsanwalt und Mandant.
Schliesslich sei weder eine hinreichend effektive Beaufsichtigung der Informationsbeschaffung gewährleistet, noch stehe den Betroffenen ein hinreichend wirksames Rechtsmittel für eine nachträgliche Überprüfung zur Verfügung.
Der Gesetzgeber – also das Parlament – müsse die Mängel im Rahmen der laufenden Gesetzesrevision beheben, schreibt das Bundesverwaltungsgericht in dem am Dienstag publizierten Entscheid.
Wie reagiert die Digitale Gesellschaft?
In einer am Dienstagmittag veröffentlichten Medienmitteilung nehmen die Verantwortlichen ausführlich Stellung zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Und sie zeigen sich skeptisch, dass die Kabelaufklärung (siehe unten) angesichts der festgestellten schweren Mängel in angepasster Form weitergeführt werden kann.
Erik Schönenberger, Co-Geschäftsleiter der Digitalen Gesellschaft, kommentiert:
Es werde insbesondere nicht möglich sein, diese anlasslose Massenüberwachung nur auf erhebliche und richtige Daten zu beschränken, dabei den journalistischen Quellenschutz und das Anwaltsgeheimnis zu wahren sowie den Betroffenen ein wirksames Rechtsmittel an die Hand zu geben, wenn ihre Daten von der Funk- und Kabelaufklärung erfasst worden sind.
Um die Grundrechte zu wahren, sei die Funk- und Kabelaufklärung sofort einzustellen.
Wie geht es weiter?
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts kann beim Bundesgericht angefochten werden.
Bundesrat Martin Pfister hat als Chef des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) die oberste zivile Aufsicht über den Nachrichtendienst des Bundes (NDB).
Was ist eigentlich «Kabelaufklärung»?
Die sogenannte Kabelaufklärung wurde in der Schweiz 2017 mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz (NDG) legalisiert und ermöglicht dem Geheimdienst das stichwortartige Durchsuchen der digitalen Kommunikation, die über die Datenleitungen läuft.
Wer ist betroffen?
Kabelaufklärung sei «Massenüberwachung», hält die Digitale Gesellschaft auf ihrer Website fest:
Die meiste Internet-Kommunikation der Schweizer Bevölkerung führt über ausländische Server und Netzwerke. Somit sind alle Menschen von dieser Überwachung betroffen, die sich in der Schweiz befinden und sich im Internet bewegen.
Ein Beispiel aus dem Alltag: Auch wenn eine Person in der Schweiz eine Mail an die Webmail-Adresse (z.B. Gmail oder GMX) einer anderen Person in der Schweiz schickt, wird diese Nachricht über Server im Ausland geleitet. Folglich hätte der Schweizer Geheimdienst Zugriff auf das Schreiben, auch wenn sowohl der Sender als auch der Empfänger in der Schweiz sind.
Warum mussten die Richter ran?
2017 reichte die Digitale Gesellschaft Schweiz gemeinsam mit sieben Privatpersonen vor Gericht eine Beschwerde gegen die Kabelaufklärung ein.
Das aktuelle Verfahren ist «Teil der strategischen Klagen der Digitalen Gesellschaft im Kampf um die Freiheitsrechte in einer digitalen Welt», wie die gemeinnützige Organisation in einer früheren Mitteilung festhielt.
Nachdem 2020 das Bundesgericht die entsprechende Beschwerde vollumfänglich gutgeheissen hatte, musste das Bundesverwaltungsgericht nun untersuchen, ob die staatliche Überwachung die Grundrechte der Betroffenen verletzt und eingestellt werden muss.
Am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg ist bereits eine Beschwerde gegen die Vorratsdatenspeicherung gemäss Strafprozessordnung hängig. Die Digitale Gesellschaft hat geklagt und spricht auch da von Massenüberwachung. Denn auch auf diese Daten, die eigentlich für Strafverfahren gedacht wären, könne der Geheimdienst zugreifen. Gemeint sind sogenannte Metadaten wie IP-Adressen, Rufnummern, Uhrzeiten und Dauer von Gesprächen.
Quellen
- bvger.ch: Massenüberwachung der grenzüberschreitenden Kommunikation ist nicht grundrechtskonform
- linkedin.com: Posting von Martin Steiger zum Fall (2. Dezember)
- digitale-gesellschaft.ch: Stellungnahme/Medienmitteilung zum Urteil
- Mit Material von Keystone-SDA
- digitale-gesellschaft.ch: Kabelaufklärung
