Das «Republik»-Magazin hat am Dienstag den Auftakt zu einer brisanten Artikel-Serie veröffentlicht. Diese dreht sich um den Schweizer «Überwachungsstaat».
Die Techjournalistin Adrienne Fichter, die die Hintergründe zur sogenannten «Kabelaufklärung» durch den Bund recherchiert hat, kommt zu einem deutlichen Befund: Es handle sich de facto um «ein Programm zur Massenüberwachung der in der Schweiz lebenden Bevölkerung».
Brisant: Im Abstimmungskampf zum neuen Nachrichtendienstgesetz (NDG) habe der Bundesrat 2016 noch versprochen, dass es keine flächendeckende Überwachung geben werde. Doch genau dies sei eingetroffen und die Verantwortlichen beim Bund wollten die Überwachung ausbauen.
Dabei handelt es sich, wie Fichter erklärt, um genau jene staatliche Massenüberwachung, die der Whistleblower Edward Snowden 2013 beim US-Geheimdienst NSA publik gemacht hatte und die weltweit für Schlagzeilen sorgte: die automatisierte Überwachung des Datenverkehrs, der über Schweizer Rechenzentren ins Ausland (und zurück) läuft.
Aus Sicht der Geheimdienstler ist das Vorgehen nachvollziehbar: Es ist die Ergänzung zur sogenannten Funkaufklärung, bei der die über Satelliten verbreiteten Signale über eigene Abhörstationen erfasst und ausgewertet werden.
Bei der Kabelaufklärung werden direkt in den Rechenzentren die Glasfaser-Leitungen angezapft und die durchlaufenden Datenströme auf Verdächtiges gescannt.
Die Ziele liegen auf der Hand: «Informationsbeschaffung, etwa für die Spionage- und Terrorismusabwehr, Schutz der Landes- und Sicherheitsinteressen, aber auch Austausch von Informationen mit befreundeten Geheimdiensten».
Ob E-Mail, Chatnachricht, Video oder Google-Suche: Wenn das Überwachungs-System im Rechenzentrum einen der vordefinierten Begriffe herausfiltert, werden die zugehörigen Daten an das von der Schweizer Armee betriebene Zentrum Elektronische Operationen (ZOE) weitergeleitet. Dieses befindet sich in der Berner Gemeinde Zimmerwald.
Swisscom, Sunrise, Salt und Co. bleibt nichts anderes übrig als zu kooperieren. Die Internet-Provider müssen die Installation und den Betrieb der staatlichen Überwachungstechnik in ihren Gebäuden tolerieren. Per Gesetz sind sie ausserdem zu absolutem Schweigen verpflichtet.
Die Schweizer Behörden haben gemäss «Republik» im Abstimmungskampf zum neuen Nachrichtendienstgesetz 2016 und auch danach immer wieder versucht, öffentliche Bedenken wegen der weitreichenden Überwachung des Internetverkehrs zu zerstreuen.
Eine Massenüberwachung wie in anderen Ländern sei nicht vorgesehen, sagte etwa Bundesrat Guy Parmelin, der damalige Vorsteher des Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS). Und im Abstimmungsbüchlein hiess es, eine flächendeckende Überwachung aller Bürgerinnen und Bürger sei ausgeschlossen. Auch der frühere Geheimdienstchef Markus Seiler stiess ins gleiche Horn und behauptete, die Kabelaufklärung komme «nicht zum Einsatz, wenn sich zwei Schweizer via eine von einem ausländischen Anbieter betriebene Mail-Adresse unterhalten».
Die Recherche zeige nun allerdings, dass kein einziges dieser Versprechen eingehalten wurde, so die «Republik».
Es gibt mehrere.
1. Vertrauensverlust in die Behörden und die demokratischen Prozesse.
2. Mangelnde Transparenz = Missbrauchspotenzial. Die Kabelaufklärung ist eine Blackbox, vieles unterliegt der Geheimhaltung. Es wäre nicht das erste Mal, dass beim Bund die internen Kontroll- und Aufsichtsmassnahmen versagen.
3. Quellenschutz tangiert. Journalistinnen und Journalisten können gemäss «Republik»-Bericht «den Quellenschutz technisch genauso wenig gewährleisten wie Anwältinnen das Anwaltsgeheimnis». Der Grund: Das ZEO und dessen Auftraggeber würden genau jene Berufsgruppen explizit nicht schützen – und darum werde deren Kommunikation unter Umständen an den Nachrichtendienst weitergeleitet.
Der seit 2022 amtierende NDB-Direktor Christian Dussey habe bestätigt, dass die Sicherheitsinteressen des Landes gegenüber dem journalistischen Quellenschutz priorisiert werden – und dieser damit faktisch aufgehoben sei.
4. Das Heuhaufen-Dilemma. Gegenüber der Digitalen Gesellschaft Schweiz, einer NGO, die seit Jahren juristisch gegen die staatliche Überwachung vorgeht, habe der NDB eingeräumt, dass die zur Analyse ans ZEO ausgeleiteten Daten dort auch gespeichert werden – «Chats, Mails und Suchanfragen oder einfach sehr persönliche Daten». Dies erlaube es dem Geheimdienst, «Retrosuchen» durchzuführen.
Gegenüber «20 Minuten» hat der Schweizer Geheimdienst ausführlich Stellung genommen und versucht, den Vorwurf der Massenüberwachung zu entkräften.
Die gesamten Aktivitäten des NDB würden «auf verschiedenen Stufen der Regierung, des Parlaments, der Verwaltung und von den Aufsichtsorganen laufend überwacht und streng kontrolliert». Und weiter: «Diese Kontrollen betreffen die Rechtmässigkeit, Zweckmässigkeit und die Wirksamkeit der Tätigkeiten des NDB.»
Unter anderem wird die unabhängige Kontrollinstanz für die Funk- und die Kabelaufklärung (UKI) genannt. Diese Behörde «prüfe regelmässig, ob die verwendeten Suchbegriffe und die Resultate mit den genehmigten und freigegebenen Kategorien von Suchbegriffen übereinstimmen».
Anzumerken bleibt, dass das VBS unter Bundesrätin Viola Amherd, eine erneute Revision des Nachrichtendienstgesetzes vorhat. Laut «Republik» soll damit nachträglich legalisiert werden, was in der Praxis bereits geschehe.
Oh, dann geht es gegen die eigenen Reihen..