Fast alle Juden haben Tunesien verlassen. Doch eine kleine Gemeinde mit knapp 1500 Mitgliedern hält bis heute die Stellung. Eine neue Gefahr kommt allerdings aus dem Nachbarland.
Als Roger Bismuth gefragt wurde, ob er denn wisse, mit wem er sich da anlege, sagte der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde: «Natürlich.» Er hatte einen Mann angezeigt, der während einer Demonstration in Tunis seine Anhänger anstachelte, Juden zu töten. Bismuth wollte handeln: «Ich habe einen Idioten mit Bart angezeigt – mir war egal, wie er heisst.»
Er hatte den gefährlichsten Hassprediger Tunesiens der Polizei gemeldet: Seifallah ben Hassine, «Schwert Gottes», in dem nordafrikanischen Land besser bekannt unter «Abu Iyadh». Inzwischen ist er wohl in Libyen. Er gilt als wichtiger Verbindungsmann - zur Terrororganisation Islamischer Staat oder Al-Kaida. Ganz genau weiss das niemand.
Seit 89 Jahren lebt Bismuth in La Goulette, einem kleinen hübschen Hafenstädtchen in der Nähe von Tunis, wo er geboren wurde. Trotz seines Alters ist er viel unterwegs. Seine Frau bringt Ruhe in sein Leben. Sie hätten noch kein einziges Mal gestritten, sagt er.
In die weite Welt hat es ihn nicht gezogen. Der einzige Umzug war auf die andere Strassenseite, als er sein Elternhaus verliess, und da blieb er bis heute: ein zweistöckiges weisses Haus mit Garten, Zitronenbäumchen, Pool und schwarzem Rottweiler als Wachhund.
Er hat noch nie daran gedacht, Tunesien zu verlassen, fühlt sich wohl in dem Land, wo fast 100 Prozent der Bevölkerung muslimisch sind und nur noch 1500 Juden leben. «Ich bin zwar der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, aber alle meine Freunde sind Muslime», sagt er. Seine sechs Kinder sind über die ganze Welt verteilt – und haben Partner verschiedenster Konfessionen. «Meine Frau und ich wurden auch in der Kirche getraut», schmunzelt er. Seine Frau, eine Dänin, bezeichnet er nach 50 Jahren Ehe als «fast Jüdin».
Seit der Jasminrevolution vor vier Jahren aber sieht Bismuth die Entwicklung in der Region wieder mit Sorge – vor allem das Erstarken der Islamisten. Im Stadtteil Lafayette von Tunis, keine 500 Meter von der grossen Synagoge entfernt, ist die Al-Fatih-Moschee, wo bis vor wenigen Monaten noch Männer mit Bärten beteten, die unter der Diktatur weggesperrt waren.
In dem Gebetshaus hat auch schon «Abu Iyadh» gepredigt und von hier aus machte sich im September 2012 ein Mob auf den Weg zur US-Botschaft, stürmte das Gelände und hisste die schwarze Dschihadistenflagge. Mehrere Menschen kamen ums Leben. Seit den Wahlen Ende 2014 und der Rückkehr der Polizei in den Strassen sind diese Männer nicht mehr zu sehen.
Im Alltag funktioniert das Zusammenleben zwischen Juden und Muslimen recht gut, das offizielle Tunesien jedoch tat sich mit Israel immer schwer. Seit Jahren gibt es keine diplomatischen Beziehungen. Im Parlament sorgte die Furcht vor einer «Normalisierung mit dem Zionismus» schon mehrfach für aufgeregte Debatten. Internationale Reedereien boykottierten im vergangenen Jahr Tunesien, nachdem die Behörden israelischen Passagieren die Erlaubnis verweigerten, in La Goulette von Bord zu gehen.
Im internationalen Sport kommt es regelmässig zum Eklat, weil tunesische Sportler sich weigern, gegen israelische Gegner anzutreten – es ist ihnen offiziell verboten.
Die Zahl der Juden in Tunesien schrumpft immer weiter. Waren es vor 70 Jahren noch 110'000, ist es heute nur noch ein Bruchteil davon - viele sind nach Israel ausgewandert, in die USA, nach Kanada oder Frankreich. Knapp über Tausend leben heute noch auf der Insel Djerba. In Tunis und La Goulette sind es nur wenige Hundert.
In der Hauptstadt wohnen die meisten in Lafayette: Dort gibt es an einer Hauptstrasse einen jüdischen Fleischer, von aussen erkennbar an dem hebräischen Schriftzug für «koscher» an der Markise. In einem halbleeren Gebäude, das von zwei Polizisten bewacht wird, ist die Verwaltungsstelle der Jüdischen Gemeinde. Auch die Synagoge ist hier. «So kommen sie am Sabbat auch ohne Auto zum Gebet.» Der Vorsitzende nimmt diese Regel allerdings nicht so genau: «Ich fahre», betont Bismuth.
Die Kultur wird in Tunesien noch gelebt wie in kaum einem anderen arabischen Land. Auf der Insel Djerba kommen jährlich gut einen Monat nach Ostern Tausende Juden aus aller Welt für ihre Wallfahrt zur Synagoge La Ghriba zusammen. «Auf Djerba sind die Menschen religiöser als in Tunis», sagt Bismuth.
Er hat seit Jahrzehnten in Tunesiens Politik und Wirtschaft mitgemischt und kennt jeden, der wichtig ist. Mit 14 musste er die Schule verlassen, arbeitete zunächst auf dem Bau. Später war er Parlamentarier, Honorarkonsul, Unternehmer und Berater der Regierung. Mit dem Sohn des späteren Staatsgründers Habib Bourguiba war er befreundet, den heutigen Präsidenten Béji Caïd Essebsi kennt er seit mehr als 50 Jahren.
Auch mit dem Chef der islamistischen Ennahda-Partei, Rachid Ghannouchi, versteht er sich. Erst kürzlich hatten sie wieder Kontakt. Denn unter den Opfern der Terrorangriffe auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» und einen jüdischen Supermarkt in Paris Anfang Januar war auch ein junger Tunesier, der Sohn eines Rabbis. Ghannouchi bat Bismuth, der Familie sein Beileid auszudrücken. An der Gedenkfeier vor der Synagoge in Tunis nahm ein Ennahda-Vertreter teil. «Wir Juden und Muslime sind hier in Tunesien wie Cousins», sagt Bismuth.
Das sei der Unterschied zu den meisten anderen Ländern in der Region. «In Ägypten haben Juden, Christen und Muslime gut zusammengelebt, bis Gamal Abdel Nasser als Präsident antrat. Die Libyer haben die Juden schon immer getötet. In Algerien war es schwierig, weil die französischen Besatzer die Juden zu Franzosen gemacht haben. Tunesien und Marokko hingegen waren immer das Paradies.»
Dass nun auch IS-Dschihadisten in Nordafrika Fuss gefasst haben, macht Bismuth Angst. «Sicherheit ist für Tunesien das wichtigste Thema, jetzt wo wir diese Leute hier haben.» Erst kürzlich gab es wieder Medienberichte über «Abu Iyadh», der Tunesier aufrufe, für die Errichtung eines Kalifats zu kämpfen. Leibwächter kommen für Bismuth jedoch keinesfalls infrage: «Wenn ich mich hier nicht ohne Bodyguard bewegen kann, dann ist es nicht mehr mein Land.» (lhr/sda/dpa)