Frau Amherd, gemäss Tages-Anzeiger plant Anita Chaban, künftig Gutachter und Richter persönlich haftbar zu machen, wenn ein gefährlicher Sexual- oder Gewaltstraftäter rückfällig wird. Was halten Sie davon?
Das ist grundsätzlich keine gute Idee. Ich fürchte, dass wir dann bald keines von beidem mehr haben. Weder Richter noch Gutachter, und das ist vermutlich nicht im Sinne der Erfinderin.
Vermutlich ist die Absicht eher eine andere.
Welche?
Dass sich im Zweifelsfall aus Angst vor persönlichen Regressansprüchen kein Richter und kein Gutachter mehr traut, etwas anderes als eine lebenslängliche Verwahrung
oder eine Verlängerung der stationären Massnahme hinter Gittern
zu empfehlen oder auszusprechen.
Das kann natürlich auch ein Gedanke hinter so einer Regelung sein. Bloss heissen auch lebenslängliche Verwahrungen oder andere Massnahmen nicht, dass ein Straftäter nie mehr Tageslicht sieht. Nicht immer sind es ja richterliche oder gutachterische Fehler, wenn gefährliche Straftäter in eine Situation kommen, in der sie trotz einer laufenden Massnahme oder Haftstrafe rückfällig werden und erneut delinquieren können.
Sondern?
Der von mir angestrengte bundesrätliche Bericht über den Straf- und Massnahmenvollzug hat gezeigt, dass es oft nicht individuelle Fehler sind, die zu gefährlichen Situationen führen, sondern institutionell-organisatorische. So war es zum Beispiel im Fall Jean-Louis B., der ausserordentlich gefährlich ist und trotzdem während eines begleiteten Hafturlaubs ausreissen konnte. Der Bericht zum Vorfall von Alt-Bundesrichter Rouillet hat gezeigt, dass die einweisenden Berner Behörden und die durchführenden Neuenburger Stellen schlecht kommunizierten, ja teils für die gleichen Sachverhalte nicht das gleiche Vokabular benützten. Die Verschiebung von Tätern über die Grenzen der Strafvollzugskonkordate ist da besonders heikel.
Ist es nicht ein typisch welsches Problem? Seit Dani H. und dem Fall Lucie gab es in der Deutschschweiz keine gravierenden Rückfälle von Gewalt- oder Sexualstraftätern mehr.
Das ist nicht richtig. Der Serienvergewaltiger Markus W. ist in Basel rückfällig geworden. Seine Vollzugslockerungen bewilligte das Luzerner Verwaltungsgericht aufgrund eines positiven Gutachtens. Und dies entgegen der Empfehlung der Vollzugs- und Bewährungsdienste, die den Fall W. kannten. Das ist ein symptomatisches Problem, dass Gerichte, die wenig solche Fälle beurteilen, Fehler machen. Über Rekurse gegen erstinstanzliche Vollstreckungsentscheide sollten deshalb nicht Verwaltungsgerichte entscheiden, sondern spezialisierte Kollegialgerichte. (Fortsetzung Interview nach Bildstrecke)
Markus W.'s Entlassung ins Wohnexternat war ein rechtsstaatlicher Entscheid, der zwar offensichtlich falsch, aber rechtlich möglich und sicher nicht leichtfertig gefällt worden war. Das kann auch spezialisierten Richtern passieren und eine nationale Regelung des Vollzugs hilft in diesen Fällen auch nicht.
Richtig, aber immerhin stimmt mir der Bundesrat in seinem Bericht zu, wenn er sagt, dass die Fälle Jean-Louis B., der Fall Anthamatten sowie der Fall Marie auf schlechter Kommunikation zwischen den einzelnen Behördenstellen beruhten. Und dagegen hälfe eine nationale Regelung sehr wohl.
Das sind alles Fälle im Welschland. Genf, Waadt, Neuenburg. Reicht es nicht, wenn man diese Kantone enger überwacht?
Ich kann kein Ranking aufstellen, welche Kantone im Umgang mit gefährlichen Gewalt- und Sexualstraftätern am fahrlässigsten sind. Fehler können überall passieren, aber man muss versuchen, das Risiko auf ein Minimum zu reduzieren und mit einer national einheitlichen Regelung geht das am besten.
Davon will der Bundesrat aber nichts wissen. Ist die Antwort nicht immer dieselbe: Strafvollzug sei Sache der Kantone?
Doch. Leider. Der Bundesrat stellt einzig Handlungsbedarf in der interkantonalen und interdisziplinären Koordination fest und diese überlässt er der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren und belässt es bei Empfehlungen. Dass es dann länger geht bis überhaupt etwas passiert, liegt auf der Hand und die Folge sind dann Initiativen, wie diejenige, die Chaban jetzt lancieren will, letztlich aber der Sache nicht dienen.