«Beschützt die Bürger», «Wechselt die Seiten», «Legt eure Waffen nieder» skandieren die Demonstranten, ihre Hände erhoben, sie signalisieren: Wir bleiben friedlich. Ihnen Gegenüber mehrere Dutzend Polizisten. Dann ein Knall, und noch einer: Empört fluchen die Demonstranten und flüchten vor dem Tränengas. Auf ihrem Rückzug werden sie von der Seite von Polizisten mit Schlagstöcken und Pfefferspray attackiert. Die Luft ätzt, Augen tränen, der Hals kratzt. Im Central-Quartier, dem Herzen des Hongkonger Finanzdistrikts, bricht Chaos aus.
Es ist Sonntag, kurz nach Mitternacht, und die Ordnungskräfte haben ihre Drohung wahrgemacht: Das Bankenviertel soll geräumt werden. Tränengasschwaden, Studenten in Gasmasken und Hundertschaften von Polizisten inmitten Shopping-Malls und gigantischen Werbetafeln für Luxusmarken – ein ungewöhnliches Bild.
Wir befinden uns im Jahre 2014. Ganz China ist unter der Kontrolle der Regierung in Peking. Ganz China? Nein! Eine von unbeugsamen Hongkongern bevölkerte Stadt hört nicht auf, Widerstand zu leisten. Hongkong sieht sich nicht als Teil Chinas, und geht es nach den zehntausenden Demonstranten, die sich im Bankenviertel der Polizei entgegengestellt haben, soll dies um jeden Preis so bleiben.
Ob die Demonstranten ihre Forderungen nach freien Wahlen durchbringen, könnte wegweisend für die Zukunft der Sonderverwaltungszone sein. Es sind Schicksalstage für die Finanzmetropole.
Am Sonntagnachmittag strömen Menschen von verschiedenen Richtungen zum Regierungszentrum, um Studenten zu unterstützen, die für freie Wahlen demonstrieren. Doch die Verstärkung kommt nicht weit – überall sperrt die Polizei die Zugänge zum Regierungsgebäude.
«Ich bin hier, um für Hongkong zu kämpfen» sagt der 26-jährige James an einem der Sit-Ins, die spontan bei den Polizeiblockaden entstehen. «Die Studenten brauchen unsere Unterstützung.» Mit Tränengas, Pfefferspray und Verhaftungen ging die Polizei am Tag zuvor gegen diese vor. Das hat viele Hongkonger schockiert. Proteste sind hier nichts ungewöhnliches – das harte Vorgehen der Polizei hingegen schon.
Der Gewaltausbruch hat die Vertreter von «Occupy Central» auf den Plan gerufen: Eigentlich wollten diese mit der Besetzung des Finanzdistrikts erst am Nationalfeiertag am Mittwoch beginnen, doch um das Momentum zu nutzen, riefen sie zur Solidarität auf.
In den Bezirken Admiralty und Central versammeln sich am späten Nachmittag so viele Menschen, dass der Verkehr komplett zum Erliegen kommt. Spontan errichtete Strassensperren sorgen dafür, dass es bis spät in die Nacht so bleibt. Die meist jungen Demonstranten bereiten sich auf eine Konfrontation mit der Polizei vor: Schutzbrillen, Alufolien, feuchte Handtücher und Regenschirme sollen vor Tränengas und Pfefferspray schützen.
Mehrmals versucht die Polizei im Laufe des Abends, die Leute zu vertreiben – ohne Erfolg. Viele sind fest entschlossen, zu bleiben, auch wenn es Tränen gibt. «Ein Polizist hat mir meine Schutzbrille heruntergerissen und mir Pfefferspray direkt in die Augen gespritzt», erzählt Santiago. Er habe sich dem Protest spontan angeschlossen. «Ich habe heute mit iPhones gehandelt, ich wollte eigentlich gar nicht hierherkommen», so der 27-Jährige. «Aber als ich gehört habe, was passiert, wusste ich: Die Leute brauchen unsere Unterstützung.»
So sehen das viele. Für die Hongkonger steht viel auf dem Spiel. Hinter all der Aufmüpfigkeit und dem Optimismus steckt die Angst vor China. Erinnerungen an die blutige Niederschlagung der Tiananmen-Proteste in Peking im Jahr 1989 werden wach. Das Gerücht, dass die Panzer der chinesischen Volksbefreiungsarmee schon bereit sind, in Hongkong einzufahren, hört man von allen Seiten. «Die Chinesen sind zu allem fähig», sagt der 33-jährige Charlie.
Dies dementiert Regierungschef Leung Chun Ying. In einer Erklärung forderte er die Demonstranten auf, nach Hause zu gehen. «Wir wollen kein Chaos in Hongkong.»
Die Sonne geht unter, die Demonstranten sind noch immer in grosser Zahl da. Auf einmal bricht die Menge in spontanen Jubel aus. Über WhatsApp und Social Media verbreitet sich die Nachricht, weitere Stadtteile seien besetzt. Wichtige Verkehrsadern in den sonst betriebsamen Bezirken Admiralty, Wan Chai, Causeway Bay sowie in Mong Kok in Kowloon sind blockiert. «Aus Occupy Central ist Occupy Hongkong geworden», verkünden die Aktivisten.
Doch die Nervosität wächst. Weil sie befürchtet, dass die Polizei auch Gummigeschosse einsetzen werde, ruft eine Studentengruppe am späten Abend vorerst zum Rückzug auf. Einige folgen dem Aufruf, Tausende bleiben. 38 Menschen wurden am Sonntag nach Polizeiangaben verletzt.
Kurz nach Mitternacht versucht die Polizei mit einem Grossmanöver, die Demonstranten zu vertreiben. Viele gehen nach Hause. Doch die Massen lösen sich nicht ganz auf: Der harte Kern bleibt und verbarrikadiert sich mit improvisierten Strassensperren.
Und so steht die Blockade auch am Montag noch. Wenige Stunden vor der Börseneröffnung in der Wirtschaftsmetropole sind zahlreiche Strassen zum Finanzbezirk gesperrt. Finanzunternehmen rufen ihre Mitarbeiter auf, von zu Hause oder anderen Büros aus zu arbeiten. Australien und Italien warnen ihre Bürger vor Reisen in die von den Protesten betroffenen Teile der Millionenstadt.
Best sign I've seen all day. @OCLPHK @HKFS1958 #OccupyCentral @TIME http://t.co/8vDxT3eliP pic.twitter.com/FSJRVvzYQ5
— Rishi Iyengar (@iyengarrishi) September 29, 2014
Wie es weitergeht, weiss niemand. Dass die Besetzung mehrere Tage vor dem Nationalfeiertag begonnen hat, hat alle Pläne über den Haufen geworfen. «Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu improvisieren», sagt ein junger Demonstrant.
Am Montagmorgen hat die Regierung entschieden entschieden, die Polizei zurückzuziehen. Sie bittet die Demonstranten, ebenfalls zu gehen.
BREAKING: Hong Kong Government has decided to withdraw riot police for #OccupyCentral, urging protestors to leave too pic.twitter.com/N6TaDdEvFj
— George Chen (@george_chen) September 29, 2014
Die Demonstranten lehnen sich gegen einen Beschluss der kommunistischen Führung Chinas auf, bei der Wahl des Chefs der Sonderverwaltungszone 2017 nur vorab ausgewählte Kandidaten zuzulassen. Damit ist eine Kandidatur von Regierungskritikern faktisch unmöglich. Es sind inzwischen die schwersten Krawalle in Hongkong seitdem die ehemalige britische Kronkolonie 1997 wieder Teil Chinas wurde.
Mit Material der Nachrichtenagentur SDA.