Weshalb die 10-Millionen-Schweiz-Initiative keine reine SVP-Vorlage ist
«Alle gegen die SVP» titelte CH Media am Dienstag, nachdem der Ständerat die Initiative zur 10-Millionen-Schweiz ohne Gegenvorschlag abgelehnt hatte. Ständerätinnen und Ständeräte von Grünen bis FDP waren sich einig, dass die Initiative auf das Ende der Personenfreizügigkeit und damit auf das Ende des bilateralen Wegs hinausliefe: Die Initiative fordert die Auflösung des Vertrags über die Personenfreizügigkeit, falls die Einwohnerzahl der Schweiz vor 2050 über 10 Millionen Personen steigt. Kündigungsinitiative wird sie deshalb von den Gegnern auch genannt.
Der Titel – so viel Selbstkritik muss sein – war nur halb richtig. Wer das Abstimmungsresultat genau betrachtet, dem fällt auf: Die Mitte-Partei gab ein uneinheitliches Bild ab. Viele ihrer Ständerätinnen und Ständeräte sympathisieren mit dem Anliegen der SVP. Zwei stimmten der Initiative sogar zu, sechs enthielten sich der Stimme. Und nur fünf sagten Nein. Ein Mitte-Politiker reagierte «fassungslos». Ein anderer warnte, ein Ja im nächsten Juni wäre ein historischer Paradigmenwechsel – und neue EU-Verträge könne man «gleich vergessen».
Verantwortung im Abstimmungskampf
Im Bundeshaus sorgte das Abstimmungsverhalten der Mitte für Gesprächsstoff. Eigentlich wollten Grüne, SP, Mitte und FDP die Initiative gemeinsam bodigen – alle gegen die SVP. Doch Kritik blieb hinter vorgehaltener Hand. Und manche, die sich enthielten, redeten lieber über französische Staumauern als über ihre Haltung zur Zuwanderung.
Die Mitte-Ständeräte Heidi Z'graggen (UR) und Daniel Fässler (AI) sagten beide Ja zur SVP-Initiative. Beide hatten es mit einem Gegenvorschlag versucht. Beide scheiterten in der kleinen Kammer. Fässler sagt:
Werde die Initiative von der Bevölkerung angenommen, müssten Bundesrat und Parlament Massnahmen gegen die Zuwanderung beschliessen. «Wir reden schon so lange über das Thema, doch nie gibt es konkrete Vorschläge.»
Fässlers Geduld ist offensichtlich am Ende, die Kündigung der Bilateralen nimmt er in Kauf. Gerade deshalb erstaunt ihn, dass die anderen Parteien nichts von einem Gegenvorschlag wissen wollten: «Man pokert brutal hoch.» Fässler wollte mit dem Gegenvorschlag eine automatische Kündigung der Personenfreizügigkeit verhindern; das Volk hätte bei Erreichen der 10-Millionen-Grenze darüber abstimmen sollen.
Peter Hegglin (Mitte/ZG) enthielt sich – aus Unzufriedenheit mit dem Parlament. Auch er wollte einen Gegenvorschlag und glaubt, die Initiative habe «intakte Chancen». Mit seiner Enthaltung mache er klar, wer die Verantwortung trage: Grüne, SP und FDP. «Sie müssen nun die Hauptarbeit im Abstimmungskampf leisten.»
Und was passiert am Freitag?
«Es war eine frustrierende Debatte im Ständerat, in der man uns nicht entgegengekommen ist», sagt Mitte-Präsident und Nationalrat Philipp Matthias Bregy.
Bregy spricht von «einer gewissen Enttäuschung», doch für die Mitte sei völlig klar, «dass wir die Initiative gegen eine 10-Millionen-Schweiz ablehnen. Sie ist eine Kündigungsinitiative und damit das Ende des bilateralen Weges.»
Auch SP-Co-Präsident Cédric Wermuth hält den Ball flach:
Bei der FDP wiederum schaut man ganz genau hin, was die Mitte am Freitag tun wird. Dann kommt die 10-Millionen-Schweiz nämlich zur Schlussabstimmung in beiden Räten. Dann wird man sehen, ob die vielen Enthaltungen aus der Mitte am Montagabend nur eine Trotzreaktion waren.
Hinter vorgehaltener Hand sagen Freisinnige, die Mitte habe am Montag eine Show abgezogen, es sei seit Langem völlig klar, dass es keinen Gegenvorschlag geben werde. Dies auch, weil man längst entschieden habe, der SP nicht in anderen Politikfeldern entgegenzukommen. Deshalb wurde ein Gegenvorschlag schon lange verworfen. (aargauerzeitung.ch)
