Gesellschaft & Politik
Europa

Ein Aargauer Priester als Notrufzentrale für Bootsflüchtlinge in Seenot

Halb Afrika kennt seine Nummer: Manchmal landen die Notrufe vom Mittelmeer fast ohne Unterbruch bei Vater Mussie Zerai, der seinen Amtssitz in der katholischen Pfarrei Erlinsbach hat.
Halb Afrika kennt seine Nummer: Manchmal landen die Notrufe vom Mittelmeer fast ohne Unterbruch bei Vater Mussie Zerai, der seinen Amtssitz in der katholischen Pfarrei Erlinsbach hat.Bild: Jiri Reiner/aargauer zeitung
6000 Leben gerettet

Ein Aargauer Priester als Notrufzentrale für Bootsflüchtlinge in Seenot

Tag und Nacht nimmt Mussie Zerai die verzweifelten Notrufe von Bootsflüchtlingen entgegen. Manchmal kann aber auch er nur noch auf eine Wende in der europäischen Asylpolitik hoffen.
25.02.2015, 05:4625.02.2015, 13:33
Daniel Fuchs / Aargauer Zeitung
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Aargauer Zeitung

Was kann einer tun, der in der sicheren Schweizer Provinz sitzt und täglich Anrufe vom Mittelmeer bekommt, von Bootsflüchtlingen, die am Ende ihrer Kräfte sind? Wenig. Oder viel: Mussie Zerai nutzt die Technologie. «+881» – steht diese Vorwahl auf dem Display seines blütenweissen Smartphones, so rechnet der 40-jährige Priester aus Eritrea, der hierzulande im Auftrag Roms seine 6500 katholischen Landsleute seelsorgerisch betreut, mit dem Schlimmsten. «+881» steht für den Anruf eines Satellitentelefons, das Zerai auch gleich die exakten GPS-Daten des Anrufers aufs Display mitliefert.

Unter Bootsflüchtlingen sind Satellitentelefone etwa so hoch im Kurs wie Zerais Handynummer. Seit Mussie Zerai sie vor zehn Jahren seiner betagten Grossmutter in Eritrea hinterlassen hat, macht sie die Runde. Flüchtlinge kritzeln Zerais Nummer nicht nur an die Wände der Flüchtlingslager in Libyen oder im Sudan, sondern auch auf das Deck der maroden Boote, in die sie an den Stränden Nordafrikas steigen. Geht ihre Flucht übers Mittelmeer schief, so erhoffen sich die Bootsflüchtlinge Hilfe aus der Schweiz. Seit er 2004 den ersten Notruf vom Mittelmeer entgegennahm, klingelt Zerais Handy zum Teil fast ohne Unterbruch.

Ein staatenloser Weltbürger 

Wir sitzen in der katholischen Pfarrei Erlinsbach, dem Dorf, das zur Hälfte im Kanton Aargau, zur anderen im Kanton Solothurn liegt. Nach dem Theologiestudium in Rom wurde Mussie Zerai von seinem Bischof zur Betreuung der eritreischen Diaspora in die Schweiz geschickt. Zuerst nach Freiburg, später nach Erlinsbach. Als Dissident zog die eritreische Regierung 2007 seinen Pass ein. Mussie Zerai ist Staatenloser.

In der katholischen Pfarrei hat Zerai ein bescheidenes Zimmer. Von hier aus reist er landauf, landab zu seinen Gemeinden und hält Messen. Oder er fliegt nach Rom oder Süditalien, an Gedenkveranstaltungen für ertrunkene oder erfrorene Flüchtlinge.

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Gemäss italienischer Küstenwache sollen Zerais Anrufe schon bis zu 6000 Menschen das Leben gerettet haben. Der Priester hat die direkte Nummer ins Hauptquartier der italienischen Küstenwache. Und diese macht einen Knochenjob. Wie vor etwas mehr als zwei Wochen, als die Retter von Lampedusa aus die Suche nach vier Schlauchbooten aufnahmen. Bis zu neun Meter hoch sollen die Wellen gewesen sein. Mit vorgehaltener Waffe waren 400 vorwiegend aus Schwarzafrika stammende Menschen von Schleppern an einem libyschen Strand in die Gummiboote gezwungen worden. Trotz Kälte, trotz Sturm. Mussie Zerai erhielt auch an diesem tragischen Wochenende verzweifelte Anrufe von hoher See, ehe eines der Boote ganz in den Fluten verschwand, viele Flüchtlinge trotz der nahenden Rettung an Unterkühlung starben und selbst die Geretteten auf dem kleinen Schiff der Küstenwache erfroren.

Was war passiert? Europa hatte die Italiener dazu gedrängt, das Monat für Monat neun Millionen Euro teure Rettungsprogramm Mare Nostrum einzustellen. Statt der italienischen Marine-Schiffe patrouillieren seither kleinere Schiffe der EU-Mission Triton der Aussengrenzagentur Frontex vor den Küsten Süditaliens. Als die 400 Flüchtlinge auf ihren Schlauchbooten ums Überleben kämpften, lag das nächste Triton-Schiff in einem Hafen auf Malta. Wie so oft musste die Küstenwache mit ihren kleineren und weniger gut ausgerüsteten Schiffen ausrücken.

Mitgefühl nicht universell 

Frontex-Missionen dienen dem Grenzschutz. Die Rettung von Menschenleben ist sekundär. Triton war ein politischer Entscheid. Das wahre Rettungsprogramm Mare Nostrum galt unter Europas Hardliner-Fraktion als Anziehungspol für Flüchtlinge. Nie zuvor war die Bootsüberfahrt sicherer, hiess es. Doch auch Mare Nostrum sei letztlich nur eine Feuerwehrübung gewesen, um die fehlerhafte Migrationspolitik Europas nicht völlig aus dem Ruder laufen zu lassen, sagt Zerai. «Solange die Menschen in ihren Ländern keine besseren Lebensgrundlagen vorfinden, werden sie sich weder von einer gefährlichen Reise durch die Wüste oder über das Mittelmeer noch von der Aussicht, von EU-Schiffen gestoppt zu werden, von einer Flucht abhalten lassen.»

Jetzt auf

Europa aber tue viel zu wenig für eine Verbesserung in den Krisenländern Afrikas oder in Nahost. Was aber ist der Grund für Europas Kaltherzigkeit? Letztlich sei es Rassismus, sagt Zerai und verweist auf die Pariser Terroranschläge zu Jahresbeginn. «Gleichentags starben 2000 Menschen nach einem Anschlag von Boko Haram in Nigeria. Doch wer ging für diese Leute auf die Strasse?», fragt Zerai. «Niemand.»

Jeder war schon in Paris und kennt Franzosen, niemand war in Lagos oder hat engen Kontakt zu Nigerianern. Solche Argumente lässt Zerai nicht gelten. Gerade in Europa werde auf die Universalität der Menschenrechte gepocht. Er stellt fest: «Gemäss Menschenrechtskonvention hat jeder Mensch dieselben Grundrechte und Freiheiten. Geht es aber um Mitgefühl, so gilt das Prinzip der Universalität plötzlich nicht mehr. Wie kann man für 17 Franzosen Manifestationen organisieren, ohne auch nur an 2000 getötete Nigerianer zu denken?»

Mussie Zerai stört die Ungleichbehandlung von Europäern und Afrikanern. Und mit der so simplen Gleichung bringt er die Geschichte über das tägliche Sterben im Mittelmeer auf den Punkt: «Wer heute die Rechte der Anderen nicht verteidigen kann, der kann sich morgen selber nicht mehr verteidigen.»

(trs)

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