Als die AfD erstmals in das Europäische Parlament einzog, war der damalige Vorsitzende und Spitzenkandidat Bernd Lucke noch voller Euphorie: Die AfD sei aufgeblüht als eine neue Volkspartei, verkündete er. Und das mit gerade einmal 7,1 Prozent. Fünf Jahre ist das her.
Und während sich die AfD in Deutschland als Rechtsaussenpartei etablierte, folgte im EU-Parlament ein beispielloser Zerfall: Von den ursprünglichen sieben AfD-Abgeordneten sitzt nur noch einer für die AfD im EU-Parlament. Er hört auf den Namen Jörg Meuthen – und ist der letzte seiner Art.
Spoiler: Dass sich sechs von sieben AfD-EU-Abgeordneten sukzessive von der AfD abgespalten haben, hat mit einer Frau zu tun, die wiederum der Partei längst den Rücken gekehrt hat: Frauke Petry.
Aber von Anfang an.
Bernd Lucke war einst das Gesicht der AfD. Der Professor für Makroökonomie war Mitbegründer einer Partei, die als eurokritische Professorenpartei startete. Anderen AfD-Mitgliedern der ersten Stunde wie Frauke Petry oder Alexander Gauland war das zu wenig. Sie wollten die Partei thematisch breiter aufstellen und rechtsnationales Potential über die Euro-Frage hinaus abschöpfen. Es kam zu einem Richtungsstreit innerhalb der AfD zwischen Rechts- und Liberalkonservativen, zwischen dem Heimat- und dem Euro-Flügel, der im Sommer 2015 einen Sieger fand. Beziehungsweise eine Siegerin:
Frauke Petry wurde auf dem Essener Parteitag zur neuen und alleinigen Parteivorsitzenden gewählt.
Und Lucke wurde zum lautstarken Mahner einer Aushöhlung der AfD durch neurechte Strömungen. Er gründete mit seinem «Weckruf 2015» eine Art Alternative zur Alternative innerhalb der Alternative. Er stilisierte sich erst zum Kritiker, dann zum Opfer einer Unterwanderung von rechts und wollte im Gegensatz zu Gauland nicht der «natürliche Verbündete» von Pegida sein. Eine AfD unter Petry mit einem einflussreichen ultrarechten Flügel, an dessen Spitze Björn Höcke immer mehr Einfluss zu gewinnen schien, war nicht mehr die AfD, die sich Bernd Lucke vorstellte. Lucke trat aus der AfD aus. Er gründete die Partei Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA), die sich später in Liberal-Konservative Reformer (LKR) umbenannte. Das Mandat im EU-Parlament behielt Lucke. Allein das Etikett war nun ein anderes.
Die Wahl Petrys zur AfD-Vorsitzenden setzte wiederum neue Fliehkräfte innerhalb der AfD-Gruppe im EU-Parlament frei: aus 6 wurden 2. Denn dem Beispiel Lucke folgten andere: Bernd Kölmel zum Beispiel. Der trat ebenfalls aus der AfD aus und in ALFA aka LKR ein. Auch der emeritierte Professor für Volkswirtschaftslehre, Joachim Starbatty – so etwas wie der heimliche Star unter alteingesessenen AfDlern, weil er in gesunder Regelmässigkeit vor das Verfassungsgericht gezogen war – trat 2015 aus der AfD aus und in die neue Lucke-Partei ein. Doch er überwarf sich mit Lucke und gab danach seinen Austritt bekannt.
Ebenfalls parteilos sitzt mittlerweile Ulrike Trebesius im EU-Parlament. Sie war einst AfD-Sprecherin des Landesverbandes Schleswig-Holstein. Auch sie ging nach der Wahl Petrys zunächst den Lucke-Weg. Auch sie trat dann aber wieder bei den Liberal-Konservativen Reformern (LKR) aus.
Genauso wie Hans-Olaf Henkel. Der war sogar mal Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie und in den 90ern Dauergast in politischen Talkshows. Auch er reagierte auf die Wahl Petrys zur neuen Vorsitzenden mit dem Austritt aus der AfD. Auch er schloss sich erst der LKR an, um schliesslich auch dort wieder auszutreten. Genau wie Lucke behielten die AfD-Abtrünnigen ihren Sitz im EU-Parlament.
Frauke Petry erging es in der Zwischenzeit an der Spitze der Partei wie ihrem Vorgänger. Im Bundestagswahlkampf marschierte die Partei rhetorisch weiter nach rechts. Und zwei Jahre nach ihrer Wahl zur Vorsitzenden wurde auch Petry von jenen Rechtsaussen-Geistern, die sie einst gerufen hatte, vom Hofe gejagt. Nur einen Tag, nachdem die AfD 2017 in den Bundestag gewählt worden war, verkündete Petry, dass sie der AfD-Bundestagsfraktion nicht angehören werde. Kurz darauf trat sie aus der Partei aus. «Ich bin vor zwei Jahren gegen Bernd Lucke angetreten, weil letztlich kein anderer das persönliche Risiko eingehen wollte. Schon damals, das ist ein offenes Geheimnis, hatten die Nationalkonservativen der AfD offensichtlich die nächste Revolution geplant», sagte Petry nach ihrem AfD-Rückzug in einem Interview mit der Zeit.
Der AfD-Ausstieg Petrys hatte Folgen für einen weiteren Noch-AfD-Abgeordneten im EU-Parlament: Marcus Pretzell. Auch der Ehemann von Frauke Petry rückte von der Partei ab. Auch er gab seinen Austritt aus der AfD im Herbst 2017 bekannt. Pretzell hatte die AfD in NRW noch 2017 ins dortige Landesparlament geführt. Zusammen mit Petry schuf er kurzerhand eine neue Partei: Die Blauen. Und auch im EU-Parlament musste sich Pretzell auf Heimatsuche begeben: Nach seinem Ausschluss aus der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) trat er der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) bei.
Heisst unterm Strich: 6 von 7 (Marcus Pretzell, Bernd Kölmel, Bernd Lucke, Ulrike Trebesius, Hans-Olaf Henkel und Joachim Starbatty) haben im Laufe der Legislatur ihr AfD-Abzeichen abgegeben. Übrig blieb einer, der ursprünglich gar nicht ins EU-Parlament gewählt wurde: Jörg Meuthen. Der hatte mittlerweile das Mandat von Beatrix von Storch übernommen, weil die nach der Bundestagswahl viel lieber im Bundestag sitzen wollte.
Für Meuthen eine «langfristig strategische Zielsetzung». Dass die AfD in den vergangenen fünf Jahren im EU-Parlament im Grunde keine Rolle gespielt hat, will Meuthen nun ändern. Der Parteivorsitzende wurde von der AfD auch als Spitzenkandidat für die Europawahl am 26. Mai aufgestellt. Für die Wahl zu einem Parlament also, das die AfD eigentlich abschaffen will.
AfD-Chef Meuthen will also nicht nur wieder in das aus Parteisicht undemokratische und abschaffungswürdige EU-Parlament, er will von dort auch stärkere antieuropäische Allianzen schmieden. Und er hat bereits die Bildung einer neuen Fraktion im Europaparlament angekündigt – gemeinsam mit der italienischen Lega sollen die rechtspopulistischen Kräfte in Europa gebündelt werden.
Meuthen hat also im Grossen vor, was im Kleinen bereits grandios gescheitert ist. Kündigt an, Bündnisse zu schmieden, obwohl das bereits unter 7 nicht geklappt hat.
Die sieben Abgeordneten, von denen sechs mittlerweile von der AfD nichts mehr wissen wollen, haben im Übrigen noch heute ihre Büros im selben Flur. Die Kommunikation ist dabei allerdings auf das Wesentliche reduziert, wie der Zuschauer in einem ARD-Panorama-Beitrag erfährt.
«Wir tun uns nichts», gibt da beispielsweise Marcus Pretzell lachend zu Protokoll. Natürlich laufe man sich immer wieder über den Weg. Mehr aber auch nicht. So wahnsinnig viel gebe es da nicht zu bereden, äussert sich in der ARD auch Jörg Meuthen zum AfD-internen Nachbarschaftsstreit. Mit Pretzell spreche er zum Beispiel gar nicht. Lucke und Meuthen grüssten sich immerhin noch. «Aber es gibt keinen politischen Kontakt», wie Bernd Lucke versichert.
Nur sind damit die national-ultrarechten Kräfte zwar zersplittert, von der europäischen Bühne verschwunden, sind sie noch lange nicht.
Ihr Wirken zu einzudämmen, wird nur möglich sein, wenn es gelingt, ihnen den Nährboden zu entziehen.
Das würde u.a. bedeuten, deutlich weniger neoliberale Politik, dafür mehr soziale und demokratische Partizipation und breite, nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung für alle.
Ob dies gelingen wird, ist mehr als fraglich, jedoch letztlich unumgänglich.
Würde mich ausserdem interessieren, was die Argumente der AfD dafür sind, das EU-Parlament undemokratisch zu nennen.