Die Lage in Afghanistan ist prekär. Der Winter steht bevor und 18,8 Millionen Menschen leiden täglich Hunger, warnte das Welternährungsprogramm (WFP) bereits vor einem Monat. Das entspricht fast der Hälfte der gesamten Bevölkerung. Bis Ende Jahr dürfte diese Zahl gar noch auf 22,8 Millionen ansteigen. Die Verzweiflung ist gross. So gross, dass viele Familien zu unvorstellbaren Massnahmen greifen: Sie verkaufen ihre minderjährigen Töchter für Geld.
Für eine Reportage war der amerikanische Sender CNN Ende Oktober in der Baghdi Provinz unterwegs. Die Umgebung in Baghdi ist karg und trocken. Nach grüner Vegetation sucht man vergeblich – die ansässige Bevölkerung lebt hauptsächlich von Hilfsgütern. So auch die Familie der 9-jährigen Parwana. Schon vor der Machtübernahme der Taliban waren die Lebensumstände für die Familie prekär. Nur humanitäre Hilfe sicherte ihr Überleben, doch ebendiese wurde mit der Machtübernahme der Taliban gestoppt. Eine Entwicklung mit weitreichenden Konsequenzen für die 8-köpfige Familie.
«Ich habe keine Arbeit, kein Geld, keine Nahrung. Ich muss meine Tochter verkaufen. Ich habe keine andere Wahl», sagt Parwanas Vater, Abdul Malik, zu CNN. Der Käufer: ein weissbärtiger, angeblich 55-jähriger Mann. Für Parwana bezahlt er dem Vater 200'000 Afghanis, was umgerechnet etwa 2000 Franken entspricht.
Es sind erschütternde Bilder, welche CNN ausstrahlt: Nachdem die beiden Männer den Vertrag per Handschlag besiegeln, wird Parwana von ihrer Mutter in den Raum geführt. Bis auf die Augen sind beide komplett in schwarzes Tuch gehüllt. Parwana wimmert. «Das ist deine Braut. Bitte kümmere dich gut um sie», bittet Abdul Malik den Bräutigam. Dieser bejaht, bevor er die kleine Parwana am Arm nimmt und sie aus dem Raum führt. Kaum aus der Haustür, wehrt sie sich, bleibt stehen, lässt sich auf die Knie fallen. Doch ihr Schicksal ist besiegelt. Mit ihrem Körper hat sie zumindest für die nächsten Monate das Leben ihrer Familie finanziert.
Es ist eigentlich nichts Neues: Die Verheiratung minderjähriger Mädchen mit älteren Männern ist ein weltweit verbreitetes Phänomen. Dass die Heirat von unter 16-Jährigen mittlerweile in den meisten Ländern mit einem Verbot belegt ist, tut dem keinen Abbruch. Treibender Faktor für diese Praxis sind hauptsächlich Armut und patriarchalische Strukturen, während Religion häufig zur Legitimierung herangezogen wird.
Je grösser die Armut, desto naheliegender ist es, für eine Familie eine Tochter zu verheiraten. Denn: Mit einer Person weniger im Haushalt hat man auch eine Person weniger zu ernähren. Es bedeutet allerdings auch den Verlust einer Arbeitskraft, weshalb dieser in bestimmten Kulturen mit dem sogenannten Brautpreis kompensiert wird. In diesem Fall bezahlt der Bräutigam den Vater in Form von Geld oder Gütern. So auch in Afghanistan.
Schon vor der Machtübernahme der Taliban haben Partnerorganisationen der UNICEF Kinderehen registriert. Obwohl die Heirat unter 15 Jahren verboten ist, wird sie vor allem in ländlichen Regionen noch immer praktiziert. So wurden in den Provinzen Herat und Baghdi zwischen 2018 und 2019 183 Kinderehen registriert. Es wird geschätzt dass 28 Prozent aller afghanischen Frauen zwischen 15 und 49 vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet wurden. Diese Zahlen dürften angesichts der andauernden Krise weiter ansteigen.
«Afghanische Mädchen werden zum Preis für Lebensmittel», sagt die Frauenrechts-Aktivistin Mahbouba Seraj zu CNN. Unter den Taliban verschlimmert sich die Lage zusätzlich, da vielen Mädchen Bildung und Arbeit verwehrt wird. Solange Mädchen die Schule besuchen, haben sie eine Zukunft. Fallen sie allerdings aus dem Bildungssystem, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie in einer Notlage von der Familie verkauft werden, so Heather Barr von der Organisation Human Rights Watch.
Es fehlt an allem: Nahrungsmittel, Trinkwasser, medizinische Gütern und Unterkünften, die auch bei -25 Grad in gebirgigen Regionen Schutz und Wärme bieten. Findet man Nahrungsmittel, so sind diese beinahe unbezahlbar. Einerseits weil die Kosten in die Höhe geschossen sind, andererseits weil es an Geld an fehlt.
«Kaum jemand hat momentan Geld in Afghanistan», sagt Hamidullah Khadem, Leiter der Industriekammer der Provinz Herat gegenüber dem Newsnetzwerk DW. «Allein im Gewerbegebiet von Herat sind 70 Prozent der Firmen pleitegegangen. Es gibt keine Nachfrage. Die Kaufkraft ist extrem geschrumpft. Die Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst bekommen kaum noch Gehalt.»
Das Problem: Die Lage ist aussichtslos – ob mit oder ohne Geld. Wer Geld hat, muss um sein Leben fürchten. Immer wieder wird von Menschen berichtet, die verschwinden oder getötet werden, weil sie im Besitz von Geld sind. Viele verkaufen deshalb nach und nach ihr Hab und Gut, um sich etwas Essen kaufen zu können. Das Dilemma beginnt, wenn der Besitz bis auf das Allernötigste geschrumpft ist. Was dann noch übrig bleibt, ist die Familie. Und Töchter.
Ein Wermutstropfen: Die Berichterstattung der CNN sorgte sowohl in Afghanistan als auch international für Aufruhr. Auch die amerikanische Non-Profit-Organisation «Too Young To Wed» wurde auf den Fall aufmerksam und setzte sich dafür ein, dass Parwana wieder zu ihrer Familie zurückkehren kann.
Our sincerest gratitude to all who worked with us to bring Parwana & her family to safety, including: Nobel Peace Prize Nominee & Former Afghanistan MP @FawziaKoofi77, Co-Founder of @LEARNAfg @BarakPashtana, our team member Basir Mohamadi... (1/3) https://t.co/ttJFhUYP74
— Too Young to Wed (@2young2wed) December 3, 2021
Nicht nur das: Sie stellten ihnen zudem ein Haus zur Verfügung und werden die gesamte Familie über die Wintermonate hinweg unterstützen. Dennoch betreibt die Organisation damit nur Symptom-Bekämpfung, wie sie selbst sagen. Wie lange sie die Familie unterstützen können, bleibt ungewiss. Zudem befindet sich die Familie noch immer in finanziellen Schwierigkeiten: Denn mit der Rückkehr Parwanas schulden sie dem Bräutigam nämlich 200'000 Afghani.
Ich habe manchmal das Gefühl, aus "Respekt" vor anderen Religionen und Kulturen werden solche Praktiken (zumindest verbal) verharmlost.
Das ist nicht einfach eine Heirat, das ist Menschenhandel und Versklavung.