Ein gewaltiger Knall. Dann fühlt Abdullah, wie ihn die Wucht der Explosion umwirft. «Ich sass hinter einem Fahrzeug, das die Explosion abgemildert hat, sonst wäre ich tot», sagt der 23-Jährige. Als er den ersten Schrecken verdaut hat, fängt er an zu rennen.
Dann dreht er um, rennt zurück zum Platz, wo Tausende Menschen sich versammelt hatten, um friedlich zu demonstrieren. Abdullah sieht all die blutüberströmten Menschenkörper, die herumliegen. «Einige schrieen um Hilfe, andere waren still. Einige Menschen versuchten zu helfen und andere rannten weg vom Platz.»
Abdullah hilft gerade, Verletzte zum nächsten Polizeiwagen zu schleppen, der sie ins Spital bringt. Da knallt es wieder. Ungefähr zwei Minuten nach der Explosion sei das gewesen, diesmal «ziemlich weit weg von uns», sagt Abdullah.
Es sollte ein Tag werden, an dem Schiiten, viele von ihnen Hasara aus Zentralafghanistan, in Kabul ihre Stimme erheben und gegen Diskriminierung und wirtschaftliche Benachteiligung protestieren. Mehr als 10'000 Demonstranten waren nach Angaben der Organisatoren auf dem zentralen Platz.
«Wir waren da, um eine faire, gleichberechtigte Entwicklung zu fordern, und Gerechtigkeit, aber stattdessen wurden wir in die Luft gesprengt», sagt Abdullah, in dessen Stimme neben der Fassungslosigkeit auch eine unvorstellbare Wut mitschwingt. «Es war schrecklich, das Schlimmste, was ich je erlebt habe.»
Die Vereinten Nationen nennen das, was Kabul an diesem Samstag erlebt hat, einen der «tödlichsten Einzelvorfälle» seit 2001. Zwei Selbstmordattentäter zünden ihre Sprengstoffgürtel inmitten der Menschen. Sie reissen mindestens 80 Menschen in den Tod, verletzen mehr als 230 weitere.
Es soll nach Angaben aus Geheimdienstkreisen einen dritten Attentäter gegeben haben, der von Sicherheitskräften getötet wurde, bevor er zünden konnte. Die Terrormiliz «Islamischer Staat» («IS») hat ihre Propaganda-Agentur Amaq zufolge die Tat für sich reklamiert.
Viele der Protestierer waren aus der armen Provinz Bamian angereist, in der Hasara leben. Sie sind die grösste ethnische Minderheit des Landes. Die Demonstration richtete sich gegen die Verlegung der Route eines wichtigen Stromprojekts.
Ursprünglich hatte die geplante Überland-Stromtrasse über Bamian verlaufen sollen. Damit wäre die Region an das afghanische Stromnetz angeschlossen worden. Nach einem späteren Gutachten wurde die Route aus Sicherheits- und technischen Gründen aber verlegt. Die Hasara beklagten die wirtschaftliche Benachteiligung und fortgesetzte Diskriminierung ihrer schiitischen Ethnie.
Sowohl in Afghanistan als auch im angrenzenden Pakistan wurden die Hasara lange verfolgt. Insbesondere unter dem Taliban-Regime wurden Tausende getötet, Hunderttausende mussten in die Nachbarländer Iran und Pakistan fliehen. Gegen Schiiten hat auch der «IS» wiederholt brutale Anschläge in Syrien und im Irak verübt – die Attacke am Samstag ist die erste gegen eine ethnische Minderheit in Kabul.
Den «IS» gibt es in Afghanistan erst seit Anfang 2015. Die Terrormiliz verübte da bereits zahlreiche Anschläge, obwohl ihr Wachstum – auch wegen blutiger Territorialkämpfe mit den rivalisierenden Taliban – gebremst ist. Die meisten sind in der Ostprovinz Nangarhar, NATO-Angaben zufolge aber auch dort nach steten US-Drohnenangriffen zunehmend in den Distrikt Durbaba zurückgedrängt.
Der politische Analyst Ahmed Saedi sagte, er bezweifle, dass der «Islamische Staat» eine solche Attacke überhaupt verüben konnte. Die Gruppe sei «nicht mächtig genug, um so einen gewaltigen Angriff in der Hauptstadt zu planen». Er beschuldigte die Regierung, das Gelände nicht gut genug gesichert zu haben. «Politische Uneinigkeit zwischen den Organisatoren und anderen Parteien haben die Situation erst geschaffen», sagt er.
Die friedlichen Demonstranten seien gegen Ungerechtigkeit auf die Strasse gegangen. Wer die Organisatoren der Demonstration beschuldige, die Gelegenheit für einen solchen Anschlag geliefert zu haben, «spukt der Demokratie ins Gesicht», sagte Saedi.
Am Sonntag ist das Land in Staatstrauer, alle Flaggen Afghanistans sind auf halbmast. Grube um Grube dicht nebeneinander heben die Menschen aus, um all die Toten beerdigen zu können.
Am Anschlagsort brennen Öllichter und Kerzen. Menschen beten für ihre verstorbenen Angehörigen, Freunde, Fremde. Das Innenministerium hat für die nächsten zehn Tage alle weiteren Demonstrationen verboten – zur Sicherheit, wie es heisst. (leo/sda/dpa)
Was wollen die eigentlich mit anschlägen auf unschuldige menschen bezwecken?
Wie gut klappt es mit der Gewaltenteilung, mit welchem Europäischen Land ist die Polizei vergleichbar? Oder gibt es gar keine funktionierende Polizei und es wird alles von privaten Sicherheitsfirmen organisiert?