Die Hegemonie der USA soll endlich gebrochen, das amerikanische Jahrhundert ein Ende haben. Davon träumen nicht nur die beiden Diktatoren Wladimir Putin und Xi Jinping. Auch Brasiliens Präsident Lula da Silva und der indische Premierminister Narendra Modi haben eine multipolare Welt zu ihrem erklärten geopolitischen Ziel erklärt, und mit ihnen jede Menge von Staatsoberhäuptern in Afrika, Asien und Südamerika.
Warum auch nicht? Eine Welt, in der eine Vielzahl von Staaten gleichberechtigt und friedlich darüber streiten, wie sich die Menschheit entwickeln soll, ist doch eine attraktivere Vision der Zukunft als eine Welt, in der eine von den USA dominierte liberale Weltordnung den anderen ihre Wirtschaftsordnung und Moral oktroyiert. Deshalb stellt der brasilianische Politologe in «Foreign Affairs» auch fest: «Eine vorherrschende Ansicht lautet, dass eine Diffusion der Macht den Schwellenländern mehr Bewegungsfreiheit verschaffen wird, weil der Machtkampf der Grossmächte es diesen erschweren wird, ihren Willen den schwächeren Staaten aufzuzwingen.»
Nicht nur die militärische und die politische Macht der USA soll gebrochen werden. Auch der Dollar, das Symbol der amerikanischen Wirtschaftspotenz, soll zurückgestutzt und seine Funktion als alleinige Leitwährung der Welt verlieren. Seit Russland aus Swift, dem WhatsApp der internationalen Finanzwelt, ausgeschlossen wurde, ist der Ruf nach einer Alternative zum Greenback noch lauter geworden.
Der Zeitpunkt, die USA vom Sockel zu stossen, scheint gut gewählt zu sein. Ein vernünftiger Dialog zwischen dem «roten» (republikanischen) und dem «blauen» (demokratischen) Amerika ist nicht mehr möglich. Der Hass zwischen den beiden Lagern sitzt so tief, dass immer wieder gar von einem Bürgerkrieg die Rede ist.
Aktuell droht der Streit um die Schuldenobergrenze das Land in eine Krise mit unabsehbaren, aber auf jeden Fall katastrophalen Folgen zu stürzen. Ein Streit, der für alle Nicht-Amerikaner nicht nachvollziehbar ist, und ein Streit, der gar für die Grundlage für eine Wiederwahl von Donald Trump im Jahr 2024 sorgen könnte.
Kein Wunder also, dass Putin und Xi immer wieder den unausweichlichen Niedergang der Supermacht USA beschwören und auf eine angebliche Dekadenz des Westens hinweisen. Beide haben sich jedoch verzockt.
Der russische Präsident erlebt in der Ukraine derzeit schmerzlich, dass amerikanische Waffen den russischen weit überlegen sind.
Sein chinesischer Amtskollege Xi hat sich derweil in eine geopolitische Ecke gemalt. Indem er sich bedingungslos hinter seinen Kumpel Putin gestellt hat, verprellte er seinen wichtigsten Kunden Europa. Selbst Italien will nun aus einem Vertrag mit China und aus der neuen Seidenstrasse – wie das ambitiöse chinesische Entwicklungsprogramm «Belt and Road» genannt wird – aussteigen. Dieses Programm befindet sich zudem in gröberen Schwierigkeiten. Mehrere davon beglückte Länder in Afrika (Kenia, Ägypten) und Asien (Sri Lanka, Pakistan) können die ihnen gewährten Kredite nicht mehr bedienen.
Überhaupt ist China derzeit alles andere als in Topform. So stellt der «Economist» in seiner jüngsten Ausgabe die Frage: «Hat Chinas Macht den Zenit überschritten?» und schreibt dazu: «Noch vor zehn Jahren haben die Prognostiker vorausgesagt, das chinesische Bruttoinlandsprodukt würde das amerikanische BIP Mitte des 21. Jahrhunderts überflügeln. Inzwischen gehen sie von einem weit weniger dramatischen Wechsel aus und sprechen von einer wirtschaftlichen Parität der beiden Nationen.»
Zu einer gegenteiligen Einschätzung ist der «Economist» kürzlich bezüglich der amerikanischen Wirtschaft gekommen. Die Sorgen um den Zustand der USA seien verfehlt, so das Fazit des führenden Wirtschaftsmagazins. «Amerika bleibt die reichste, produktivste und innovativste Volkswirtschaft der Welt. Entlang einer eindrücklichen Liste von Kriterien lässt es seine Rivalen weit zurück.»
Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Das Pro-Kopf-Einkommen von Mississippi, dem ärmsten amerikanischen Bundesstaat, ist höher als dasjenige Frankreichs.
Die These vom Niedergang des Dollars ist nicht nur alt – der französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing schimpfte schon in den Siebzigerjahren über das «exorbitante Privileg» der amerikanischen Währung –, es entbehrt auch jeglicher faktischen Grundlage. Weder der Euro noch der Renminbi werden in absehbarer Zeit eine Alternative zum Dollar als globale Leitwährung bilden, auch wenn diese These von Scharlatanen und Krypto-Freaks immer wieder vertreten wird. «Ignoriert die Dollar-Untergangs-Propheten», stellt Paul Krugman in der «New York Times» fest, und er ist für seine Handelstheorien immerhin mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden.
Fast alles spricht somit dafür, dass die amerikanische Hegemonie noch lange andauern wird – und das ist gut so. So stellt Bradford DeLong in seinem epochalen Buch «Slouching Towards Utopia» fest, dass ein wichtiger Grund für die Grosse Depression das Fehlen einer Supermacht war. Niemand habe damals das internationale Geldsystem geregelt, deshalb sei eine koordinierte Aktion gegen die Wirtschaftsflaute nicht erfolgt, so DeLong.
Der Marshall-Plan, der nach dem Zweiten Weltkrieg die globale Wirtschaft wieder aufblühen liess, sei nur deshalb möglich gewesen, weil nun die USA die Zügel fest in der Hand gehalten hätten. DeLong ist alles andere als ein rechter Nationalist, er wird dem linksliberalen Lager zugeordnet.
Seine Einschätzung wird unter anderem auch von Stephen Brooks und William Wohlforth geteilt. Die beiden Politologen vom Dartmouth College stellen in der jüngsten Ausgabe von «Foreign Affairs» fest, dass historisch gesehen eine multipolare Welt keineswegs erstrebenswert ist: «Die multipolare Welt war eine hässliche Welt. Die Grossmächte führten dauernd miteinander Krieg – zwischen 1500 und 1945 mehr als einmal pro Jahrzehnt. Mit furchterregender Regelmässigkeit haben sich die führenden Mächte in schreckliche, alles zerstörende Konflikte verwickelt.»
So gesehen ist es kein Unglück, dass die USA ihre Stellung als Hegemonie-Macht behaupten können. Und das werden sie auch. «Selbst wenn China und Russland noch näher zusammenrücken, bleiben beide dennoch militärische Regionalmächte», so Brooks/Wohlforth. «Der Verbund von zwei Regionalmächten schafft noch keine Supermacht. Um das zu erreichen, müssten Russland und China ihre militärische Potenz massiv ausbauen – und dazu werden sie so rasch nicht in der Lage sein.»
Zu Recht wurde nach dem Sieg im Kalten Krieg die amerikanische Arroganz kritisiert. Vor allem die Finanzkrise hat dazu geführt, dass die USA inzwischen zumindest teilweise von ihrem hohen Ross heruntergestiegen sind. Sie deshalb mit dem Zerfall des römischen Reiches zu vergleichen, ist Unsinn. Vorläufig können die Amerikaner einzig an sich selbst scheitern, beispielsweise indem sie tatsächlich die Schuldenobergrenze nicht anheben – und so die Welt in ein Chaos stürzen.
Es gibt keine grössere Dekadenz als der Lebensstil von russische Milliardären.