Warum wir uns nicht vor einer Niederlage Putins fürchten sollten
Es sei ja schön und gut, sollte die Ukraine Putin eine Niederlage beifügen. «Aber was dann?», lautet eine weit verbreitete Frage, welche Politexperten und Geheimdienstler seit Monaten gleichermassen umtreibt. Viele der Antworten fallen dystopisch aus: Extreme Nationalisten, die noch schlimmer seien als Putin, würden an die Macht kommen und die ganze Welt in den Abgrund reissen. Oder Russland würde zerfallen und zu einem «failed state» werden. In den einzelnen Regionen würden Warlords wie der Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow oder Mafiosi wie Jewgeni Prigoschin, der berüchtigte Chef der Söldner-Truppe Wagner, das Sagen haben. Etc.
Diese Ängste seien unbegründet, erklären nun Garry Kasparow und Michail Chodorkowski in einem Essay in «Foreign Affairs». Der ehemalige Schachweltmeister und der ehemalige Oligarch vertreten vielmehr eine beruhigende These: «Das sich abzeichnende Ende von Putins Herrschaft sollte keine Angst auslösen, sondern vielmehr mit offenen Augen begrüsst werden.»
Eine entscheidende Niederlage auf dem Schlachtfeld würde Putins Aura der Unbesiegbarkeit zertrümmern, ihn als Architekt eines zerfallenden Staates entlarven und sein Regime für Angriffe aus den eigenen Reihen verwundbar machen, so Kasparow/Chodorkowski weiter. Doch dies werde nicht zu einem Chaos führen, denn die Russen würden dann vor die Wahl gestellt, entweder zu einem Juniorpartner von China zu werden oder endlich Frieden mit dem Westen zu schliessen.
Kasparow/Chordorkowski sind zuversichtlich, dass sich die Russen für eine Annäherung an den Westen und damit auch für Demokratie und Rechtsstaat entscheiden würden. Das neue demokratische Russland, das nach Putins Niederlage entstehen würde, schildern die beiden wie folgt:
- Es wird sofort Frieden mit der Ukraine geschlossen. Die Grenzen von 1991 werden anerkannt, will heissen, die Krim gehört wieder zur Ukraine, und für die enormen, durch Russland verursachten Kriegsschäden werden Reparationszahlungen entrichtet.
- Die Konfrontationen mit dem Westen werden eingestellt. Russland wird zu einem friedfertigen Partner und integriert sich in die Euro-atlantischen Institutionen.
- Im Innern wird Russland demilitarisiert, der Umfang der Truppen massiv reduziert. Die Organe von Putins Polizeistaat, vor allem die rund 400’000 Mann umfassende Nationalgarde, werden aufgelöst, die repressiven Gesetze annulliert und die politischen Gefangenen auf freien Fuss gesetzt.
- Der aktuell allmächtige russische Staat wird geschwächt, die einzelnen Regionen erhalten mehr Kompetenzen.
- Die Kriegsverbrecher, die leitenden Köpfe der Putin-Regierung, werden zur Verantwortung gezogen.
Damit ein solches demokratisches Russland entstehen kann, müsse die Biden-Regierung ihre Zurückhaltung aufgeben und der Ukraine schwere Waffen wie Panzer und Raketen mit grösserer Reichweite liefern. «Biden kann den Niedergang des Putin-Regimes beschleunigen und somit die Voraussetzungen für ein demokratisches Russland schaffen und der Welt die Torheit dieses Krieges vor Augen führen», so Kasparow/Chordorkowski. «Die Vereinigten Staaten dürfen nicht aus einer falsch verstandenen Angst die Hoffnungen der Ukraine zerstören.»
Für einen allfälligen Sieg brauchen die Truppen der Ukraine vor allem auch deutsche Leopard-Panzer. Damit tut sich der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz jedoch immer noch schwer – so schwer, dass mittlerweile ein neuer Begriff gekürt worden ist: das Scholzing. Darunter versteht man: «Gute Absichten kommunizieren, nur um dann jeden nur denkbaren Vorwand zu gebrauchen/finden/erfinden, um zu verzögern/verhindern, dass diese Absichten auch umgesetzt werden.»
Das Verhalten des deutschen Kanzlers ist tatsächlich kaum mehr zu begreifen. In Berlin schütteln hohe Diplomaten den Kopf darüber, dass Scholz den Leopard-Entscheid erneut vertagt hat. Einer von ihnen erklärte gegenüber der «Financial Times»: «Wir sind eigentlich davon ausgegangen, dass der Damm gebrochen sei und sich Scholz endlich in die richtige Richtung bewegt. Nun kratzen wir uns am Kopf und fragen uns, was mit diesem Typen los ist.»
Selbst in der Ampelkoalition rumort es. Die FDP-Politikerin Agnes-Marie Strack-Zimmermann, Chefin des Verteidigungs-Ausschusses im Bundestag, erklärte gegenüber dem ZDF: «Die Geschichte beobachtet uns, und Deutschland hat leider versagt.» Zudem sei die Kommunikation katastrophal, so Strack-Zimmermann. «Wenn der Kanzler die Panzer nicht liefern will, dann muss er uns wenigstens erklären, weshalb.»
Vieles deutet darauf hin, dass Scholz dem internationalen Druck doch noch nachgeben wird. Annalena Baerbock, die deutsche Aussenministerin, hat nun wenigstens erklärt, dass Deutschland anderen Staaten erlauben werde, Leopard-Panzer in die Ukraine zu liefern.