Seine imperialen Träume begründet Wladimir Putin gerne mit der Expansionspolitik Peter des Grossen. Der erste russische Kaiser gründete nicht nur Sankt Petersburg, sondern besiegte 1709 im ukrainischen Poltawa die Schweden, die sich nach dieser Niederlage aus dem Baltikum zurückziehen mussten. Dieses geriet unter russische Herrschaft. Peter der Grosse habe sich damit nur zurückgeholt, was ohnehin schon immer russisch gewesen sei, meint Putin.
Moskau versucht nun schon seit bald drei Jahren, die Ukraine «heim ins Reich» zu holen. Der Eroberungskrieg ist in erster Linie ideologisch begründet. Der Diktator im Kreml will Russland wieder gross machen, und ohne eine unterjochte Ukraine bleibt dieses Ziel illusorisch. Es ist eigentlich eine Fortsetzung der kolonialen Ambitionen des Zarenreichs. Doch hinter Angriffskriegen stehen in der Regel auch wirtschaftliche Motive.
Die Ukraine ist die Kornkammer Europas. Gelänge es Moskau, das Land zu unterwerfen, so kämen beide Staaten zusammen auf einen weltweiten Exportanteil von 60 Prozent bei Sonnenblumenöl und 24 Prozent bei Weizen. Doch der Reichtum der Ukraine befindet sich nicht nur in der fruchtbaren Schwarzerde der riesigen Getreidefelder, sondern auch unter dem Boden.
Das ist fürs Auge besonders offensichtlich in den Bergbauregionen des Donbass im Osten und Südosten des Landes. Förderschächte von Bergwerken und gewaltige Abraumhalden sind dort weitherum sichtbar.
Im Sommer 2022 wurde der Wert der gesamten ukrainischen Bodenschätze auf mehr als umgerechnet 25'000 Milliarden Franken geschätzt, also 25 Billionen. Davon befanden sich damals schon Ressourcen im Wert von rund 12'000 Milliarden Franken in den von Russland besetzten Gebieten, vor allem im Donbass. Seither haben Moskaus Streitkräfte weitere Regionen erobert und damit auch die dort im Boden schlummernden Rohstoffe. Stand heute kontrolliert Russland knapp 19 Prozent des ukrainischen Territoriums.
Die Ukraine verfügt über riesige Reserven an Eisenerz und Kohle, doch in der «neuen Ökonomie» und für die so genannte Energiewende spielen diese Ressourcen eine weniger wichtige Rolle. Für die E-Mobilität der Zukunft braucht es hingegen unter anderem Graphit und das Leichtmetall Lithium. Die beiden Stoffe werden für die Elektroden von Lithiumionen-Akkus verwendet, die heute in allen Mobiltelefonen, Laptops sowie in elektrischen Autos und Hybridfahrzeugen eingebaut werden.
Laut dem geologischen Dienst der Regierung reichen die ukrainischen Reserven an Lithium und Grafit aus, um die Elektroden von 20 Millionen E-Autobatterien herzustellen. Zum Vergleich: Derzeit sind weltweit schätzungsweise mehr als 42 Millionen Autos mit Elektromotor in Betrieb.
Von strategisch wichtigen Bodenschätzen hat die Ukraine darüber hinaus auch grosse Reserven an Titan, Uran und Beryllium, wobei Letzteres als Schlüsselmetall für die Luft- und Raumfahrt sowie für die Elektronik- und Rüstungsindustrie gilt.
Russland ist dagegen noch immer auf den Export von Erdöl und -gas angewiesen, doch hat selbst Putin die Bedeutung von Lithium und anderen Mineralien für die Mobilität der Zukunft und den Rüstungssektor erkannt. So ordnete er nur wenige Monate nach der Invasion der Ukraine an, dass die Ausbeutung strategisch wichtiger Mineralien prioritär behandelt werden solle, darunter Lithium, Graphit, Beryllium und Titan.
In der Ukraine hat man bisher drei Lagerstätten mit schätzungsweise 500'000 Tonnen Lithiumoxid gefunden. Damit gehört das Land zu den potenziell grossen europäischen Produzenten des Leichtmetalls. Allerdings existiert die Infrastruktur, die für die aufwendige Lithium-Extraktion notwendig wäre, noch nicht. Und angesichts des andauernden Kriegs wird kaum ein Investor bereit sein, Geld in den Bau von Bergwerken und Fabriken zu stecken.
Das gilt auch für das grosse Lithium-Vorkommen in Kruta Balka, ganz im Süden der Ukraine. Die Gegend eroberten die Russen schon zu Beginn ihrer Invasion, aber aktuelle Satellitenbilder zeigen keinerlei Aktivität, die auf die Anfänge eines Bergwerks hindeuten würden. Mit der Ausbeutung der ukrainischen Lithiumvorkommen lassen sich die Russen also offenbar Zeit.
Die russische Nachrichtenagentur Itar-Tass frohlockte Anfang Oktober, dass die russische Armee schon bald eine zweite Lagerstätte beim Dorf Schewtschenko im Oblast Donezk erobern würde. Allerdings gibt es in dieser Region mindestens vier Dörfer mit diesem Namen. Taras Schewtschenko ist der Nationaldichter der Ukraine, der im 19. Jahrhundert lebte und sich aus russischer Leibeigenschaft freikaufen musste.
Darum gibt es in der Ukraine unzählige Orte, die Schewtschenko heissen. Und Itar-Tass war sich offenbar nicht bewusst, dass es sich beim Dorf, das in der Meldung genannt wurde, bloss um eine gleichnamige Ortschaft handelte, die absolut gar nichts mit Lithium zu tun hat.
Wir beginnen unsere Fahrt ins richtige Schewtschenko von der seit August heftig umkämpften Stadt Pokrowsk aus. Die Russen versuchen, das wichtige Logistikzentrum südlich zu umgehen, um es dann auch von Westen zu umgehen. Die Lithium-Lagerstätte befindet sich ziemlich genau 55 Kilometer südwestlich von Pokrowsk, wie wir einer alten sowjetischen Landkarte entnehmen können.
Wir fahren darum zuerst nach Westen, um genügend Distanz zur Front zu schaffen, und erst danach nach Süden. Damit wollen wir das Risiko verringern, Opfer eines russischen Drohnenangriffs zu werden.
In den 1980er-Jahren hatten sowjetische Geologen beim Dorf Schewtschenko insgesamt 127 Löcher in den Boden gebohrt. Die dabei zutage geförderten Proben liessen erwarten, dass sich Hunderte Meter unter der Erdoberfläche eine lithiumhaltige Schicht befindet. Doch damals wurde Lithium vor allem in der Glas- und Keramikindustrie eingesetzt.
Der erste serienmässig hergestellte Lithiumionen-Akku kam erst 1991 auf den Markt. Es kann also nicht erstaunen, dass die ukrainischen Lithiumvorkommen in den letzten Jahren vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht ausgebeutet wurden.
Es ist ein grauer Nachmittag, an dem wir über holprige Strassen und Feldwege in Schewtschenko ankommen – ein Geisterdorf. Viele Häuser sind vom russischen Artilleriebeschuss beschädigt, besonders die kleine Kirche, deren Dach fast vollständig zertrümmert ist. Im Osten und Süden sind die russischen Stellungen nur noch rund ein Dutzend Kilometer entfernt.
Damit befinden wir uns in der Reichweite der russischen Kampfdrohnen. Schnell schalten wir die fünf Störsender auf dem Dach unseres Autos ein, um das Risiko eines Angriffs zu minimieren.
Wir suchen Zivilisten, die uns etwas über die Lagerstätte erzählen können – und haben Glück. In einem Gehöft treffen wir auf Hunde und Ziegen sowie auf die 66-jährige Irina Michailowna. Sie erzählt, dass ihr eigenes Haus bombardiert worden sei. Nun lebe sie mit ihrer Tochter in dem Gehöft, das eigentlich anderen Leuten gehöre.
Seit zwei Wochen flögen andauernd Drohnen umher. Sie müssten sich dann sofort verstecken, denn die Piloten wollten unbedingt noch ein Ziel treffen, bevor die Batterie leer sei.
Zynischerweise beziehen die Elektromotoren der Drohnen ihren Strom ebenfalls aus Lithiumionen-Akkus. Nachts überfliegen grosse russische Schahid-Drohnen das Dorf, wie Michailowna weiter erzählt. Sie greifen Ziele weiter im Landesinnern an und sind am Röhren ihres Zweitaktmotors unschwer zu erkennen. In der Ferne hören wir das Gewittergrollen der Artillerie.
«Von ursprünglich 1000 Bewohnern gibt es jetzt nur noch 35 in Schewtschenko», erzählt die alte Dame, die an einem Stock geht. Während der Sowjetzeit habe sie als Laborassistentin gearbeitet, und zwar für die Geologen, die Probebohrungen vornahmen.
«Wir haben die Bohrkerne markiert und in Säcke verpackt. Die wurden dann in einem Labor untersucht. Mir hat dieser Job gefallen, weil ich zwei Tage pro Woche frei hatte. Die Alternative wäre Arbeit in der lokalen Kollektivfarm gewesen.» Nach dem Ende der Untersuchungen seien die vielen Bohrlöcher versiegelt worden. «Heute ist davon nichts mehr zu sehen.»
Auf der alten sowjetischen Karte ist die Lagerstätte nördlich eines Tümpels und ganz in der Nähe des Friedhofs eingezeichnet. Die Stelle lässt sich leicht finden. Wie die alte Dame vorausgesagt hat, ist aber nichts mehr zu sehen. Was bleibt, sind Felder, die schon lange nicht mehr bearbeitet werden und nun langsam dem Unkraut zum Opfer fallen. Wahrscheinlich werden russische Soldaten schon bald hier eintreffen.
Für den Kreml ist dann eines gewiss: Die Möglichkeit, dass westliche Firmen jemals Zugriff auf die Lithium-Vorkommen von Schewtschenko erhalten, ist damit definitiv vom Tisch. Und genau das scheint Putin im Moment wichtiger zu sein, als die Vorkommen selbst auszubeuten.
(aargauerzeitung.ch)
Ressourcen waren von Anfang an der einzig wahre Grund. Es geht immer um Ressourcen.
Mit der Ukraine in der Hand wäre Europa's fossile Energieversorgung praktisch komplett durch Russland kontrolliert. Dazu kam damals noch Nordstream.
Auch hat die Ukraine noch ein paar andere Produkte für den Weltmarkt zu bieten die zu besitzen und zu kontrollieren interessant ist.
Summary: Neu und heimlich ist der Kriegsgrund bestimmt nicht.
Das heimliche Ziel, meiner Meinung nach, war nebenher den Westen zu destabilisieren. Was ihm recht gut gelingt.