Jean-Luc Mélenchon ist die französische Antwort auf Bernie Sanders. Er ist zwar erst 70 und damit nicht ganz so alt wie der Senator aus Vermont. Er ist auch deutlich linker. Wie Bernie ist er jedoch ebenfalls der Held der Jungen und der Grünen.
Bei den Präsidentschaftswahlen am vergangenen Sonntag hat Mélenchon 22 Prozent der Stimmen erhalten. Damit lag er nur knapp hinter Emmanuel Macron (27,8 Prozent) und Marine Le Pen (23,2 Prozent). Mélenchon hat es damit nicht in die zweite Runde in knapp zwei Wochen geschafft. Doch er ist zum Königsmacher Frankreichs avanciert.
Der Ausgang des zweiten Wahlgangs wird eng werden. Weil die Stimmen des Rechtsradikalen Éric Zemmour (7,1 Prozent) mit Sicherheit an Le Pen gehen werden, und weil die Sozialisten und die bürgerlichen Republikaner in der Bedeutungslosigkeit abgesunken sind, werden die Stimmen der Mélenchon-Anhänger entscheiden, wer ins Palais de l’Élysée einziehen wird.
Wie sich diese Anhänger entscheiden werden, ist unsicher. Mélenchon hat zwar bereits aufgerufen, es dürfe keine Stimme an Madame Le Pen gehen. Doch gleichzeitig hat er es auch vermieden, eine positive Empfehlung für Macron abzugeben. Das ist kein Zufall. Der amtierende Präsident ist bei den Mélenchon-Anhängern nicht nur unbeliebt, er ist geradezu verhasst.
Der ehemalige Investmenbanker Macron gilt als Präsident der Reichen. Le Pen hingegen hat ihre Anhänger wie Mélenchon bei den Arbeitern und der Landbevölkerung, bei den Menschen also, die sich von der Globalisierung übergangen und von der eigenen Regierung vernachlässigt fühlen.
Le Pen hat denn auch im Wahlkampf das klassische Repertoire der Rechtspopulisten vorwärts und rückwärts durchdekliniert. Sie hetzt gegen die globale Elite, will den Franzosen ihr Land zurückgeben und ein Verhüllungsverbot für Muslime einführen. Dazu gibt sie sich betont familienfreundlich und posiert mit Kindern und ihren zahlreichen Katzen.
Auch in Frankreich hat die Inflation neue Höchststände erreicht. Das nutzt Le Pen geschickt aus. Sie verspricht tiefere Benzinpreise und generell tiefere Lebenskosten. Deshalb ist es alles andere als sicher, dass die Mélenchon-Wähler geschlossen ins Macron-Lager wechseln werden. Die «Financial Times» zitiert einen enttäuschten Anhänger wie folgt: «Mir ist gar nicht zumute, Macron ein zweites Mal zu unterstützen. Es würden bloss weitere fünf verlorene Jahre sein.»
Es ist daher wenig wahrscheinlich, dass die Mélenchon-Anhänger geschlossen ins Lager von Le Pen wechseln werden. Es ist jedoch damit zu rechnen, dass viele von ihnen im zweiten Wahlgang frustriert zu Hause bleiben und damit die Chancen für eine Sieg Le Pens erhöhen.
Ein solcher Sieg wäre schlicht eine Katastrophe für Europa. So lange ist es nicht her, dass Le Pen noch erklärt hat: «Ich stehe für die gleiche Politik wie Donald Trump und Wladimir Putin.» Bekanntlich hat ihre Partei 2017 dank Putin einen namhaften Kredit einer russischen Bank erhalten.
Angesichts des Krieges in der Ukraine hat sich Le Pen zumindest teilweise vom russischen Präsidenten distanziert. Ihre Ansichten über Russland hätten sich geändert, sagt sie nun. Doch es ist unwahrscheinlich, dass unter einer französischen Präsidentin Le Pen die bisher geschlossene europäische Front gegen Russland aufrechtzuerhalten wäre.
Gleichzeitig verzichtet Le Pen neuerdings auf die Aufforderung, Frankreich müsse aus dem Euro austreten. Fallengelassen hat sie auch den Ruf nach einer Wiedereinführung der Todesstrafe.
Trotz allem bleibt sie ein Wolf im Schafspelz. So will Le Pen erreichen, dass französisches Recht über dem EU-Recht stehen soll. Das ist ein direkter Angriff auf einen Grundpfeiler der Europäischen Gemeinschaft und auch Gegenstand eines noch nicht gelösten Konfliktes zwischen Brüssel und Warschau. Le Pen hat auch Viktor Orban zu seinem Sieg gratuliert und damit ihre Verbundenheit zum schwarzen Schaf in der EU demonstriert.
Eine Präsidentin Le Pen würde schliesslich auch anderen Rechtspopulisten wie Matteo Salvini in Italien Auftrieb verleihen und nachträglich den Brexit rechtfertigen. Denkbar wäre gar, dass die EU zerbrechen würde. «Die Reaktionen auf einen Sieg Le Pens in Brüssel und Berlin wären Horror», stellt Gideon Rachman in der «Financial Times» fest.
Vor fünf Jahren hat Macron Le Pen mit über 60 Prozent der Stimmen deutlich geschlagen. Damit kann er nicht mehr rechnen. Aber hoffen darf er. Der «Economist» hat ein Modell für den Ausgang von Wahlen entwickelt, das sich in der Vergangenheit als sehr treffsicher erwiesen hat. Dieses Modell beziffert die Wahrscheinlichkeit eines Sieges von Macron immer noch auf 74 Prozentpunkte.