Eines der Highlights des amerikanischen Wahlkampfes im Jahr 2016 war die Rede von Michelle Obama am Parteikonvent der Demokraten. «When they go low, we go high», rief die abtretende First Lady unter tosendem Applaus den Delegierten zu. Diese Worte sind Geschichte. Wenn sich die Demokraten im kommenden August in Chicago zu ihrem Konvent treffen werden, dann werden ganz andere Töne zu hören sein.
Einen Vorgeschmack davon hat Joe Biden bereits in seiner «State of the Union»-Rede geliefert. Dabei ist er deutlich von der präsidialen Tradition abgewichen. Er hat keine wohltemperierte Rede gehalten, in der er seine Verdienste aufzählte, Pläne für die Zukunft erläuterte, aber auch immer wieder nette Worte für die Opposition einfliessen liess.
Stattdessen attackierte Biden seinen Rivalen Donald Trump frontal. 13 Mal erwähnte er ihn – nicht namentlich zwar, sondern als «meinen Vorgänger» –, doch jedes Mal in einem sehr negativen Kontext.
Auch andere Mitglieder der Grand Old Party (GOP) bekamen ihr Fett weg, insbesondere die notorische Pöblerin Marjorie Taylor Greene. Ihre Zwischenrufe quittierte der Präsident nicht nur prompt, sondern mit sichtlicher Lust.
Biden hat damit die präsidiale und die demokratische Tradition über Bord geworfen. Nicht nur politisch, auch im Auftreten unterscheiden sich die beiden amerikanischen Parteien deutlich. Joe Klein, ein langjähriger Politbeobachter und Autor, stellt dazu in einem Gastkommentar in der «New York Times» fest: «Die Demokraten prozessieren; die Republikaner kämpfen. Die Demokraten schweben beinahe in einem Zustand von moralischer Überlegenheit; für die Republikaner ist Politik ein Ringkampf.»
Die unterschiedlichen Mentalitäten hängen mit den unterschiedlichen Menschentypen zusammen. Bei den Demokraten wimmelt es von Anwälten, Lehrern, Sozialarbeitern, Sprachtherapeuten und Akademikern. «Generell sind das keine Leute, die es sich gewohnt sind, Schläge auszuteilen», so Klein. «Es ist die Partei der Identitätspolitik, immer bemüht, niemandem auf den Schlips zu treten. Für sie sind Anstand und Auftreten viel wichtiger als für die Republikaner.»
Mit Anstand ist jedoch in der aktuellen amerikanischen Politik kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Joe Biden hat erkannt, dass er weit mehr tun muss, als vor dem Untergang der Demokratie zu warnen und die Erfolge seiner Wirtschaftspolitik zu verkünden. Anders als vor vier Jahren kann er seinen Widersacher auch nicht mehr aus dem sicheren Keller seines Hauses in Delaware bekämpfen. Nicht mehr «die andere Wange hinhalten», heisst es nun für den gläubigen Katholiken Biden. Die Losung lautet jetzt «Auge um Auge, Zahn um Zahn».
Und er tut es auch. Nachdem nun auch numerisch feststeht, dass er der Präsidentschaftskandidat der Demokraten sein und erneut auf Trump treffen wird, greift Biden zum Holzhammer. Er verweist auf das Chaos der Trump-Ära, ganz speziell während der Corona-Krise. Er macht sich über die erfolglosen Versuche seines Vorgängers lustig, etwas gegen den miserablen Zustand der amerikanischen Infrastruktur zu unternehmen; und er erklärt trotzig: «Ja, ich bin alt, aber ich liefere.»
Die Republikaner ihrerseits haben längst den Kampf-Modus eingeschaltet. Trump hat die Parteileitung gesäubert. Nicht nur die bisherige Chefin Ronna McDaniel, auch rund 60 Mitarbeiter wurden gefeuert. Neu an der Spitze der GOP ist ein gewisser Michael Whatley. Sein Anspruch auf Ruhm besteht darin, dass er behauptet, er habe im Bundesstaat North Carolina einen massiven Wahlbetrug der Demokraten verhindert und Trump so zum Sieg verholfen.
Der Ex-Präsident verspricht sich vom neuen Mann, dass er dies bei den kommenden Wahlen auf der nationalen Ebene wiederholen kann. «Diesmal verlangt Trump, dass die Parteileitung weit aggressiver vorgeht bei der Instruktion der Wahlbeobachter und bereits im Vorfeld der Wahlen und danach Klagen wegen versuchter Manipulationen einreicht», meldet die «New York Times».
Nicht nur Trump, auch die übrigen Republikaner greifen zu dreckigen Tricks. Typisches Beispiel ist die Anhörung des Sonderermittlers Robert Hur am vergangenen Dienstag. Dieser wurde eingesetzt, um abzuklären, ob auch Biden unrechtmässig geheime Dokumente aufbewahrt hatte. Obwohl Hur ein eingetragenes Mitglied der GOP ist, hat der demokratische Justizminister Merrick Garland seine Einsetzung zugelassen. Unter Trump wäre dies undenkbar gewesen.
Hur hält in seinem abschliessenden Bericht zwar fest, dass es keinen Grund gebe, Präsident Biden strafrechtlich zu verfolgen. Doch Hur ergänzte seinen Bericht mit einem perfiden Nebensatz, indem er Biden als «gut meinenden, älteren Herrn mit einem schlechten Gedächtnis» betitelte. Diesen Schlag weit unter die Gürtellinie schlachten die Republikaner nun bis zum Gehtnichtmehr aus.
Die Demokraten sind erleichtert, ja begeistert, dass Biden gewillt ist, mit gleicher Münze zurückzuzahlen. Doch der Präsident wandert dabei auf einem schmalen Grat. Er muss die Stimmen der unabhängigen Wählerinnen und Wähler gewinnen. Diese wollen jedoch keinen Rowdy wie Trump.
Ein typisches Beispiel für die heikle Ausgangslage ist der Bundesstaat Arizona, ein sogenannter Swing State. Dort verzichtet die Senatorin Kyrsten Sinema auf eine Wiederwahl. Sie war zunächst Mitglied der Demokratischen Partei, politisierte die letzten Jahre jedoch als Unabhängige.
Deshalb sieht das politische Kalkül wie folgt aus: In Arizona sind 1,4 Millionen – rund ein Drittel der Wählerinnen und Wähler – unabhängig. Gemäss Umfragen hätten ein Viertel davon ihre Stimme Sinema gegeben. Um diese Stimmen ist nun ein erbitterter Kampf zwischen Demokraten und Republikanern entbrannt – und mit dem Holzhammer allein wird er nicht zu gewinnen sein.
Diese Meinung muss ich revidieren. Die Lauten fallen auf, weil sie laut sind und nicht weil sie recht haben. Sollte Biden beides liefern, dann kann er die Wiederwahl schaffen.