Als sich die lange Wahlnacht des 3. Novembers allmählich ihrem Ende näherte, überbrachte Wahlkampf-Manager Bill Stepien seinem Boss Donald Trump die schlechte Nachricht. Er habe dem Ex-Präsidenten dargelegt, dass seine Siegeschancen auf «fünf, im besten Fall zehn Prozentpunkte» gesunken seien, erklärte er gestern vor dem Ausschuss zur Abklärung der Ereignisse vom 6. Januar 2021.
Auftritt Rudy Giuliani, Trumps persönlicher Anwalt. Stark alkoholisiert verschaffte er sich Zutritt zu den Räumen, in denen der Ex-Präsident die eintreffenden Wahlergebnisse verfolgte. «Er war definitiv betrunken», erklärte Jason Miller, einer von Trumps Beratern, vor dem Ausschuss. «Wie betrunken er war, als er mit dem Präsidenten sprach, kann ich nicht genau sagen.»
Wie viele Promille Giuliani also an jenem schicksalshaften Abend tatsächlich in seinem Blut hatte, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. Nicht jedoch das Resultat seines Auftritts beim Ex-Präsidenten. Liz Cheney, die Vize-Präsidentin des Ausschusses, fasste es beim gestrigen Hearing wie folgt zusammen:
Trump hat Giulianis Rat befolgt und genau dies getan. Er hat dabei in den Wind geschlagen, wovor ihn seine Experten gewarnt hatten: die Gefahr einer «roten Fata Morgana». Dieses Phänomen trifft ausgeprägt im Bundesstaat Pennsylvania auf. In diesem oft matchentscheidenden Swingstate dürfen die Brief-Stimmen erst ausgezählt werden, wenn die Wahllokale geschlossen haben. Das bedeutet, dass das definitive Resultat der Abstimmung oft Tage später eintrifft.
Weil deutlich mehr Demokraten als Republikaner brieflich abstimmen, ist die «rote Fata Morgana» in Pennsylvania besonders ausgeprägt eingetroffen. Will heissen: Die ersten Hochrechnungen zeigten einen Sieg der Republikaner – Rot ist die Farbe der GOP – an. Doch dieser Sieg war eine Illusion. Je mehr Brief-Stimmen ausgezählt wurden, desto blauer färbte sich das Resultat ein, bis schliesslich Joe Biden zum Sieger ausgerufen wurde.
Das wollte Giuliani nicht wahrhaben. «Sie stehlen uns den Sieg», hämmerte er dem Ex-Präsidenten ein. «Woher stammen all diese Stimmen? Wir müssen nun öffentlich erklären, dass wir gewonnen haben.»
In der Folge spaltete sich das Team im Weissen Haus in zwei Lager: ins «Team normal» und ins «Team Rudy». In der zweiten Gruppe waren Spinner versammelt, Leute wie die Anwältin Sidney Powell, welche vor keiner noch so verrückten Verschwörungstheorie zurückschreckte: Die Software der Wahlcomputer sei manipuliert worden, angeblich gar von Hugo Chavez, dem längst verstorbenen Diktator von Venezuela. Oder die Maschinen seien von Italien aus manipuliert worden.
Trotz dieser hanebüchenen Theorien wollte Trump nichts mehr vom «Team normal» wissen. Er hörte einzig noch auf «Team Rudy». Daraufhin warf selbst William Barr, der Justizminister, der bisher sämtliche Schandtaten Trumps mitgetragen hatte, entnervt das Handtuch. «Es war wie bei Whack-a-Mole (einem Spiel, bei dem man einen Maulwurf erschlagen muss, wobei immer wieder ein anderer auftaucht, Anm. d. Verf.)», gab Barr dem Ausschuss zu Protokoll. «Jeden Tag tauchte eine neue Verschwörungstheorie auf.»
Aus all diesen Verschwörungstheorien entstand schliesslich die Big Lie, die Lüge von der angeblichen Wahlmanipulation zugunsten von Biden, an die Trump bis heute glaubt und die er unablässig wiederholt. «Ich habe immer und immer wieder erklärt, das sei verrückt und dass sie ihre Zeit verschwenden würden», so Barr.
Trump entwickelte, was in den USA auch als die Seinfeld-Lüge bekannt ist. In dieser legendären TV-Serie wird einmal einer in Schwierigkeiten geratenen Person geraten: «Denk daran, es ist keine Lüge, wenn du daran glaubst.» Trump klammert sich offensichtlich an die Seinfeld-Lüge. «Ich habe mir gedacht, mein Gott, wenn er das wirklich glaubt, dann hat er den Kontakt mit der Realität verloren», so Barr.
Allerdings spricht bei Trump einiges gegen die These der Seinfeld-Lüge. Er hat schon im Wahlkampf stets von angeblich manipulierten Wahlen fabuliert und erklärt, nur Wahlbetrug könnte seinen Sieg verhindern. Und er hat diesen eingebildeten Wahlbetrug schamlos für seine eigenen Zwecke ausgenützt.
Am gestrigen Hearing wurde bekannt, dass Trump rund 250 Millionen Dollar an Spenden eingesammelt hat, angeblich, um den imaginären Wahlbetrug aufzuklären. Den grössten Teil dieses Geldes hat Trump jedoch in die eigene Tasche gesteckt. Geld, das zum grössten Teil von seinen Anhängern stammt, die meist nur wenig Geld besitzen.
Zoe Lofgren, ein Mitglied des Ausschusses, erklärte daher:
Als besonders abstossendes Beispiel erwähnte Lofgren Kimberly Guilfoyle, die ehemalige Fox-News-Moderatorin und Partnerin von Donald Trump Jr. Sie kassierte 60’000 Dollar – für eine Rede, die gerade mal drei Minuten dauerte.