Das Kürzel MAD stammt aus dem Kalten Krieg und steht für «Mutually Assured Destruction», oder auf Deutsch: gegenseitig gesicherte Vernichtung. Die damalige Sowjetunion und die USA hatten beide so viele Atomsprengköpfe der verschiedensten Art gebunkert, dass selbst ein Überraschungsangriff der einen Supermacht keinen Sieg gebracht hätte. Die andere Supermacht hätte immer noch mehr als genügend Bomben gehabt, um ebenso vernichtend zurückzuschlagen.
Das mag absurd erscheinen – Militärexperten rechneten jeweils vor, wie viele tausend Mal die Menschheit hätte ausgelöscht werden könnten –, es hatte jedoch auch eine gewisse Logik. Ronald Reagan und Michail Gorbatschow erklärten denn auch 1985 in einer gemeinsamen Erklärung, dass unter diesen Umständen ein «Atomkrieg niemals gewonnen und deshalb auch niemals geführt werden sollte».
Diese Logik ging auf. Die UdSSR zerbrach ohne nukleare Apokalypse.
China hat bei diesem Wettrüsten nicht mitgemacht. 1964 führte es zwar seinen ersten Test mit einer Atombombe durch. Doch die Bombe war einzig als Abschreckung gedacht. Mao Zedong soll sie gar als «Papiertiger» bezeichnet haben. Chinakenner erklärten derweil, anders als Moskau werde sich Peking niemals auf ein desaströses Wettrüsten mit Washington einlassen. Anders als die Russen seien die Köpfe der Kommunistischen Partei China dazu viel zu schlau.
Unter Deng Xiaoping konzentrierten sich die Chinesen tatsächlich auf den wirtschaftlichen Aufbau und schafften dabei ein ökonomisches Wunder. Gewissermassen aus der Steinzeit ist China zur bald grössten Wirtschaftsmacht der Welt mit der modernsten Infrastruktur geworden.
Doch nun wird auch militärisch aufgerüstet – und wie. General Mark Milley, Generalstabschef der US-Streitkräfte, spricht von einem «Sputnik-Moment» und meint damit eine chinesische Superwaffe, eine Atomwaffen-fähige Rakete, die mit vielfacher Überschallgeschwindigkeit um den Erdball rasen und die amerikanische Abwehr durchbrechen kann.
Der ursprüngliche «Sputnik-Moment» war übrigens der Tag, an dem die Sowjets die Amerikaner damit überraschten, den ersten Satelliten ins All zu schiessen. Dadurch wurde das erste Wettrüsten ausgelöst.
Auch die chinesische Superrakete erwischte Washington auf dem falschen Fuss. «Wir erleben den bedeutendsten Wandel des geopolitischen Kräfteverhältnisses, den die Welt je gesehen hat», erklärte Milley gegenüber der «Financial Times».
«Dieser Wandel findet zeitgleich mit einem fundamentalen Wandel des Charakters des Krieges statt», so Milley weiter. «Wir müssen dringend handeln und unsere Möglichkeiten in allen Bereichen ausbauen – zu Land, zur See, in der Luft, im Cyberspace und bei unseren Atomstreitkräften –, um uns so der sich entwickelnden globalen Machtlandschaft stellen zu können. Wir müssen jetzt handeln. Sonst riskieren wir, dass die kommenden Generationen scheitern werden.»
Ein «MAD mit chinesischen Charakteristiken» zeichnet sich offensichtlich ab. Das sieht auch der auf Atompolitik spezialisierte Chinaexperte Tong Zhao so. Er schreibt in der «New York Times»: «Es scheint mir offensichtlich zu sein, dass Pekings nukleare Aufrüstung ein Versuch ist, Washington zu zwingen, seine vermeintliche strategische Überlegenheit aufzugeben und eine Beziehung der ‹gegenseitigen Verletzlichkeit› anzuerkennen – eine Beziehung, in der keines der beiden Länder die Möglichkeit hat, mit einem Atomkrieg zu drohen, ohne die eigene Vernichtung zu riskieren.»
Chinas militärische Aufrüstung der letzten Jahre ist beeindruckend und bedrohlich. Die jährliche Produktion von Atomsprengköpfen wurde vervierfacht und das Atomarsenal soll 2030 mindestens 1000 Bomben der verschiedensten Arten umfassen. Auch konventionell hat die chinesische Armee gewaltig an Muskeln zugelegt. Sie verfügt mittlerweile über die grösste Flotte, eigene Flugzeugträger befinden sich in Bau und im Südchinesischen Meer werden künstliche Inseln für militärische Zwecke aufgeschüttet.
Das alles lässt sich nicht mehr mit Selbstverteidigung erklären. «Solche Kapazitäten baut man nicht einzig für Abschreckung auf», sagt denn auch US-Vize-Generalstabschef John Hyten.
Nicht nur waffenmässig geht Peking in die Offensive. Wie die USA will China vermehrt auch militärische Alliierte an sich binden. Bisher gibt es bloss ein Militärbündnis mit Nordkorea. Das soll sich ändern. «Chinesische Kommentatoren erwähnen neuerdings die Bedeutung der sino-russischen Beziehungen und betonen dabei, Peking und Russland müssten vermehrt zusammenarbeiten, um die von den USA angeführte Koalition zurückzudrängen», stellt Patricia M. Kim im Magazin «Foreign Affairs» fest.
Nebst Russland hat China dabei Pakistan und den Iran als mögliche Partner im Auge. Eine lose Beziehung mit ihnen besteht bereits in der Shanghai Cooperation Organization.
«Mad» ist auch ein englisches Adjektiv und bedeutet «verrückt». Tatsächlich war das nukleare Wettrüsten im Kalten Krieg eine Art Wahnsinn. Nicht nur wurden dabei Unsummen an Kapital vernichtet. Ein Atomkrieg würde wohl das Ende der Menschheit bedeutet. Daran ändert sich nichts, wenn man neuerdings von «gegenseitiger Verletzlichkeit» spricht.
Ein Atomkrieg hätte nicht nur den Tod von Millionen von Menschen zur Folge, sondern auch einen «nuklearen Winter». Darunter versteht man eine riesige Staubwolke, die während Jahren die Sonne verdunkeln und so zu einer neuen Eiszeit führen würde. Einen solchen nuklearen Winter hat es letztmals vor rund 60 Millionen gegeben. Damals wurde er durch den Einschlag eines Meteoriten ausgelöst. Er hat zum Aussterben der Dinosaurier geführt.