Eine «Spezialoperation» hätte es werden sollen, wenige Tage waren einkalkuliert, mittlerweile sind daraus über zwei Monate geworden – und ein Ende des Krieges in der Ukraine ist nicht in Sicht. Der ursprüngliche Plan Russlands, die Ukraine in einem Blitzkrieg von fast allen Seiten einzunehmen, ist gescheitert.
Inzwischen konzentriert sich die russische Armee auf den Osten und Süden der Ukraine, mit bislang bescheidenen Erfolgen. Auf der Gegenseite steigt derweil die Zuversicht, siegreich aus diesem Krieg hervorzugehen. US-Aussenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin liessen bei ihrem Besuch in Kiew von vergangenem Sonntag verlauten, dass die Ukraine gewinnen könne, «wenn sie die richtige Ausrüstung und die richtige Unterstützung haben». Von den USA, die der Ukraine bereits Kriegsmaterial im Wert von drei Milliarden Dollar haben zukommen lassen, ist die Unterstützung gewiss.
Die USA sehen sich mittlerweile in einem neuen Kalten Krieg. Das brachte Verteidigungsminister Lloyd Austin überaus deutlich zum Ausdruck:
Doch was heisst das? Wie geschwächt ist Russland tatsächlich? Wie viele Kampftruppen sind in der Ukraine? Können die Waffenlieferungen aus dem Westen Russland den Garaus machen? Wie steht es um Strategie, Logistik, Führungsstärke und Moral auf beiden Seiten? Eine Annäherung.
Die Frontlinie kann dank Informationen aus Russland, der Ukraine und Geheimdiensten aus dem Westen relativ genau nachgezeichnet werden. Die Kontaktlinie verläuft von Charkiw im Nordosten über Donezk, bis in die umkämpften Gebiete rund um Mariupol, Melitopol und Cherson im Süden.
Die russischen Streitkräfte haben nach Angaben des Generalstabs in Kiew das Tempo ihrer Angriffe im Osten der Ukraine deutlich erhöht. Die russischen Besatzer würden praktisch von allen Seiten intensiv angreifen und Ziele unter Beschuss nehmen, teilte der Stab in der ukrainischen Hauptstadt mit. Moskau ziehe zusätzliche Kräfte in die Nähe von Isjum im Gebiet Charkiw zusammen. Die US-Denkfabrik «Institute for the Study of War» spricht von kleinen, aber stetigen Fortschritten der russischen Streitkräfte.
Das Ziel der russischen Truppen scheint zu sein, die ukrainischen Kämpfer in der Donbass-Region einzukesseln, indem sie aus mehreren Richtungen vorrücken, unter anderem südlich von Isjum und nördlich von Donezk. Wie der Thinkthank jedoch schreibt, sei «die Fähigkeit der russischen Streitkräfte, grosse Gruppen ukrainischer Streitkräfte einzukesseln, fraglich».
Wie viele Kampftruppen sich tatsächlich gegenüberstehen, ist ebenfalls fraglich. Die Informationen müssen mit grosser Vorsicht genossen werden.
Gemäss dem US-Verteidigungsministerium soll die russische Armee seit Beginn des Kriegs am 24. Februar bereits ein Viertel ihrer Kampfkraft – über alle Truppengattungen hinweg – verloren haben. 76 russische Bataillone (fortan: BTGs) sollen übrig sein. Plus 22 weitere Einheiten, die nördlich der Ukraine überholt und neu ausgerüstet werden.
Jede dieser BTGs umfasst etwa 800 Mann und zehn Panzer sowie weitere gepanzerte Fahrzeuge. Wobei mehrere Experten zu bedenken geben, dass zu diesem Zeitpunkt nicht mehr klar sei, was überhaupt als BTG bezeichnet werden kann und wie hoch ihre Personalstärke ist. Und so schwanken die Angaben darüber, auch zwischen gut 60 und mehr als 80 BTGS.
Was jedoch klar ist: Das russische Militär hat aus den verbleibenden Streitkräften, einschliesslich Stützpunkten im Ausland und Kaliningrad, zusammengetragen, was es konnte. Wie der amerikanische Historiker und Professor für strategische Studien Phillips O'Brien darlegt, kommt die Beschaffung neuer Reserven zudem einer Herkulesaufgabe gleich:
Russland habe kein Ausbildungssystem, um eine Masseneinberufung von unausgebildetem Personal zu bewältigen. Wolle man mehr Soldaten ausbilden, müsste man ein entsprechendes System einrichten. «Das dauert in einem effizienten System normalerweise viele Monate. Erst wenn man das Ausbildungssystem hat, kann man mit dem Aufbau der neuen Armee beginnen», schreibt O'Brien. Im besten Fall könnte Russland in 9 Monaten «schlecht ausgebildete, unmotivierte Wehrpflichtige produzieren, aber das war es dann auch schon.»
This is a point worth examining. We have lots of stress on what if Russia goes for societal mobilization now (normally by the way by those who argued that Russia would conquer Ukraine quickly). However, societal mobilization is not easy under the best of conditions. https://t.co/tLh2F1qhhG
— Phillips P. OBrien (@PhillipsPOBrien) April 28, 2022
Sowohl O'Brien als auch andere Analysten kommen deswegen zum Schluss, dass Russland nicht über genügend Personal verfügen würde, um einen bedeutenden Durchbruch im Osten zu erzielen.
Doch wie sieht es mit der ukrainischen Truppenstärke aus? Auch hier sind Informationen rar. Mick Ryan, ein pensionierter General der australischen Armee, geht aufgrund «verschiedener Quellen» von 45 bis 75 BTGs aus. Also fast gleich viele wie auf russischer Seite.
Ryan gibt jedoch zu bedenken, dass für eine erfolgreiche russische Operation ein Truppenverhältnis von mindestens 3:1 vorliegen müsste. Und «dies setzt voraus, dass die russischen Angreifer gut geführt, versorgt und koordiniert sind. Wie wir im Norden gesehen haben, ist das unwahrscheinlich».
Die Truppenstärke ist nur ein Faktor unter vielen im Kräftevergleich. Mindestens genauso wichtig ist das vorhandene Kriegsmaterial. Und hier dürfte die Ukraine trotz präzedenzloser Unterstützung aus dem Ausland im Hintertreffen liegen.
Russland hat ein riesiges Arsenal an klassischen Kampfsystemen. Allein westlich der Wolga sollen 2800 einsatzfähige Panzer vorhanden sein. Weitere 12'000 sollen im Rest des Landes verteilt sein. Russland fehlt es zwar aufgrund der Sanktionen an moderner Technologie wie Chips für Hightech-Waffensysteme, doch diese sind in diesem Krieg eher sekundär. Gekämpft wird wie im Zweiten Weltkrieg: mit klassischen Panzersystemen und Infanterie.
Der Westen – allen voran die USA – geben sich alle Mühe, den materiellen Rückstand der Ukraine mit Unmengen an Waffenlieferungen auszugleichen. Allein aus den Vereinigten Staaten treffen jeden Tag zwischen acht und zehn Flugzeuge mit militärischer Ausrüstung in grenznahen Flughäfen ein. Auch Länder wie Deutschland, die zu Beginn des Krieges zögerlich reagierten, liefern mittlerweile Panzer und anderes schweres Kriegsmaterial.
Ironischerweise zählt Russland selbst zu den grössten Waffenlieferanten der Ukraine. Die niederländischen Analysten Stijn Mitzer und Joost Oliemans listen auf ihrer Website Oryx sämtliche von den Ukrainern erbeuteten Gegenstände auf. Insgesamt 1190 Panzer, bewaffnete Fahrzeuge, Luftabwehrsysteme und anderes Kriegsgerät wurden bisher erbeutet.
Wie der renommierte Russland-Forscher Michael Kofman vom «Center for Naval Analyses» im US-amerikanischen Arlington jedoch schreibt, wird es noch eine Weile dauern, bis die erbeutete Ausrüstung «einsatzfähig, bemannt und dort eingesetzt ist, wo sie einen spürbaren Unterschied macht». Bis dahin brauche die Ukraine weitere Munitions- und Waffenlieferungen aus dem Ausland.
I’m sure some folks will say - but Ukraine has captured a lot of equipment. On paper, yes, but it’s going to be a while before this kit is serviceable, manned, and deployed where it makes a tangible difference. A few captured tanks or IFVs do not an armored brigade make. 21/
— Michael Kofman (@KofmanMichael) April 3, 2022
Das beste Kriegsmaterial nützt Russland jedoch nichts, wenn es nicht richtig eingesetzt wird. Was uns zu den intellektuellen Aspekten führt, wie man es im Militärjargon zu sagen pflegt. Damit wird die praktische Anwendung von Wissen verstanden – also Kriegsführung, Taktik, Logistik, Führung und Kontrolle. Aber auch organisatorische Konzepte gehören dazu, wie der Aufbau einer Lernkultur oder die Anpassung an neue Gegebenheiten.
Zu den wichtigsten intellektuellen Aspekten, die die Russen – im Osten, aber auch während der gesamten Invasion – unter Beweis gestellt haben, gehören die BTGs als zentrale Kampfformation, die Fähigkeit zum Einsatz von Boden- und Luftstreitkräften und die Fähigkeit, Krieg an mehreren Fronten zu führen.
8/25 However, there are many shortfalls in this intellectual component which will tell in their eastern operations. The Russians have not provided suitable logistic support to their combat forces. Nor have they demonstrated the capacity to integrate air and land operations well.
— Mick Ryan, AM (@WarintheFuture) April 24, 2022
Wie der pensionierte australische General Mick Ryan festhält, weist Russland in all diesen Bereichen jedoch Defizite auf: «Die Russen haben keine angemessene logistische Unterstützung für ihre Kampftruppen bereitgestellt. Sie haben auch nicht bewiesen, dass sie in der Lage sind, Luft- und Landoperationen gut zu integrieren.»
Zwar hätten einige Quellen festgestellt, dass zusätzliche logistische Einheiten in den Osten verlegt wurden und dass die russischen Lufteinsätze zugenommen haben, aber das reiche nicht aus, um das Problem systematisch zu lösen. Und weiter:
Die Ukrainer auf der anderen Seite scheinen bislang taktisch alles richtig gemacht zu haben, nicht nur zur Überraschung Russlands. Ihre Aktionen beweisen sich immer wieder als systematisch, gut geplant und sehr effektiv. Sei es im Unterbrechen von russischen Logistikketten oder Russland gleich zu Beginn des Krieges mittels einiger Flieger und einer Reihe verschiedener Luftabwehrsystemen die Luftüberlegenheit zu nehmen, was zu einer sehr hohen Zahl von Verlusten an russischen Flugzeugen führte.
Wobei die Ukrainer gemäss neusten Berichten auch aktive Unterstützung der USA erhielten. So sollen US-Geheimdienste spezifische Koordinaten von russischen Stellungen an die Ukraine überliefert haben. Nichtsdestotrotz: Insgesamt ist der Verschleiss an russischem Personal und Material gigantisch.
These are the indicative estimates of Russia’s combat losses as of April 27, according to the Armed Forces of Ukraine. pic.twitter.com/m5kOv0sk6L
— The Kyiv Independent (@KyivIndependent) April 27, 2022
Was uns zum letzten Punkt führt: der Moral. Die Ukrainer beweisen seit Beginn des Krieges einen scheinbar unbändigen Willen und Zusammenhalt. Viele Militärexperten führen dies auf eine gute Ausbildung und viel Erfahrung aus den letzten 8 Jahren Krieg zurück. Zudem erfahren sie Unterstützung aus fast aller Welt.
"I want to say one thing: @elonmusk's Starlink is what changed the war in #Ukraine's favour. #Russia went out of its way to blow up all our comms. Now they can't. Starlink works under Katyusha fire, under artillery fire. It even works in Mariupol." pic.twitter.com/C2QnVTE3tc
— David Patrikarakos (@dpatrikarakos) April 27, 2022
Auf russischer Seite sieht es anders aus. «Die strategische Führung hat diesen Krieg schlecht geplant», schreibt zum Beispiel Mick Ryan. Es gebe systemische Probleme bei der Ausbildung und der Organisationskultur. Die Moral der Truppen sei entsprechend sehr schlecht.
Der britische Journalist David Patrikarakos hat die ukrainischen Streitkräfte im Donbass besucht. Die Berichte der Soldaten zeichnen ein fürchterliches Bild der Gegenseite:
“What has shocked me is the callousness of #Russia soldiers to their own men.”
— David Patrikarakos (@dpatrikarakos) April 27, 2022
He shows me a photo taken from a drone of soldiers eating lunch in a ruined house near several bodies lying in the dirt.
“They’re eating 20 meters from the decomposing bodies of their comrades.” pic.twitter.com/BTrNT5PNNh
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Russland nicht mehr die militärische Überlegenheit besitzt, die ihr vor dem Krieg attestiert wurde. Truppenmässig liegen die Ukraine und Russland praktisch gleichauf, lediglich beim Material scheint Russland noch die Oberhand zu besitzen.
Mit vermehrten Waffenlieferungen aus dem Westen scheint es jedoch wahrscheinlich, dass sich der Konflikt zu einem Abnutzungskrieg wandelt. Russland-Experte Michael Kofman sieht in einem solchen Fall leicht bessere Karten für die Ukraine, «aber ich denke, die ehrliche Antwort lautet: ‹Es kommt darauf an›».
Der australische General Mick Ryan zieht ein ähnliches Fazit. Die russische Kampfkraft scheine nicht die Aussicht auf grössere russische Erfolge bei ihrer Ostoffensive zu unterstützen. Und weiter:
ich bin überzeugt, dass die Russen nur quantitativ die Oberhand hat, qualitativ ist die Ukraine wesentlich besser aufgestellt und vor allem moderner ausgerüstet.
ich selbst würde ebenfalls lieber mit einer SIG 9mm dastehen, als mit 7 Hellebarden.
(https://www.derstandard.at/story/2000133716003/oesterreich-schickt-helme-schutzwesten-und-treibstoff (fehlt auf der Karte)
Schade, fährt die Schweiz mit ihrem Ausfuhrverbot auf Schutzwesten eine total feige Strategie.