Mit einer Grossoffensive im Osten der Ukraine versucht die russische Armee, die ukrainischen Truppen im Donbass einzukesseln. Das Aufgebot an Truppen und Kriegsmaterial, das Moskau an der ukrainischen Front massiert hat, ist enorm: Etwa 76 BTGs (Battalion Tactical Groups) sollen sich in der Ukraine und in den angrenzenden russischen Gebieten befinden. Jede dieser Einheiten umfasst etwa 800 Mann und zehn Panzer sowie weitere gepanzerte Fahrzeuge. 22 weitere BTGs werden laut amerikanischen Angaben nördlich der Ukraine überholt und neu ausgerüstet.
Die Reserven des russischen Goliaths an Mensch und Material scheinen unerschöpflich. Doch die russische Armee hat seit dem Einmarsch am 24. Februar hohe Verluste erlitten. Etwa ein Viertel ihrer Kampfkraft – über alle Truppengattungen hinweg – soll sie bisher verloren haben. Die Anzahl der gefallenen Soldaten lässt sich nicht genau beziffern, dürfte aber enorm sein. Selbst das kremlnahe Nachrichtenportal Readovka berichtete, bisher seien 13'414 Soldaten getötet worden und 7000 würden vermisst. Die Nachricht wurde kurz darauf gelöscht. Ukrainische Angaben zu russischen Verlusten liegen naturgemäss noch weit höher.
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Solche ungeheuren Verluste, die heutzutage für eine Armee eines Industrielandes beispiellos sind, sind selbst für Russland nicht leicht zu ersetzen. Das Riesenreich hat nämlich ein gravierendes Problem: die Demografie.
Der russische Präsident Wladimir Putin höchstpersönlich hat den Finger schon mehrmals auf diesen wunden Punkt gelegt. Im Jahr 2006 erklärte er:
2007 bezeichnete Putin die Bevölkerungspolitik als «erstrangige Aufgabe der russischen Politik». Und im November 2021 sagte er:
Die russische Führung befürchtet eine депопуляция страны («Entvölkerung des Landes»), das Schlagwort dazu lautet «Raum ohne Volk» – in Umkehrung der Losung «Volk ohne Raum» aus der deutschen völkischen Blut-und-Boden-Ideologie. Allerdings besteht die eigentliche «heraufziehende Katastrophe» für die russische politische Elite nicht primär im Bevölkerungsrückgang, sondern in der – vermeintlich daraus folgenden – schwindenden Weltgeltung. «Weniger Volk bedeutet weniger Souveränität», bemerkte dazu 2007 der Vorsitzende des russischen Rechnungshofes, Sergej Stepaschin. Wie aber kommt der Kreml zu dieser pessimistischen Einschätzung?
Heute liegt Russland, das flächenmässig mit beträchtlichem Abstand grösste Land der Welt, in der Rangliste der Staaten nach Bevölkerung auf dem 9. Platz – hinter Ländern wie Bangladesch, Nigeria oder Pakistan. Um 1900 hatte Russland (ohne seine europäischen, kaukasischen und zentralasiatischen Besitzungen; also das eigentliche Russland innerhalb des Zarenreichs) mit rund 87 Millionen Einwohnern die drittgrösste Bevölkerung der Welt. Grösser waren nur das Kaiserreich China (ca. 400 Mio.) und Britisch-Indien (294 Mio.); die USA waren mit 76 Millionen Einwohnern hingegen noch deutlich kleiner.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachen dann aber gleich mehrere demografische Katastrophen über Russland herein: Schon im Ersten Weltkrieg fielen mehr als 1,8 Millionen Soldaten, was zu einem Männermangel und dadurch zu weniger Ehen führte, aus denen Kinder hervorgingen. Der Krieg ging nahezu nahtlos in den Bürgerkrieg zwischen Bolschewiki und den Anhängern des Zaren über, der wiederum Millionen von Todesopfern forderte. Möglicherweise verlor Russland zwischen 1914 und 1921 etwa 30 Millionen Menschen – mehr als im Zweiten Weltkrieg.
Auf den Bürgerkrieg folgten die Stalinschen Säuberungen, die im «Grossen Terror» von 1936 bis 1938 ihren Höhepunkt fanden. Diesen Säuberungswellen fielen mindestens 3 Millionen Menschen zum Opfer; manche Historiker nennen aber weit höhere Zahlen – die Schätzungen gehen bis zu 22 Millionen. Diese sehr hohen Angaben dürften aber vermutlich Opfer des Zweiten Weltkriegs enthalten. Dieser forderte einen enormen Blutzoll; die Verluste der Sowjetunion betrugen schätzungsweise 13 Millionen Soldaten und 14 Millionen Zivilisten.
1943, mitten im Krieg, wurden nur rund 1 Million Kinder geboren (zum Vergleich: 1939 waren es 4,3 Millionen). Dieser historische Tiefstand löste eine demografische «Welle» aus, deren Tal etwa alle 25 Jahre wiederkehrt – so beispielsweise um 1968 herum oder 1993, die beide geburtenschwache Jahrgänge waren.
Bereits kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, auf den in Russland – wie auch in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion – eine tiefe ökonomische und gesellschaftliche Krise folgte, kam es zu einem markanten Niedergang der Geburten. Während mehr als einer Dekade sank die Zahl der Geburten beinahe unablässig, bis um die Jahrtausendwende eine leichte Erholung einsetzte.
Die Zahl der Russen, die sich heute in ihren Zwanzigern und Dreissigern befinden, ist aufgrund dieser Entwicklung relativ klein. Auch dieses demografische Wellental beginnt sich jetzt auf die Gesamtpopulation auszuwirken, da diese Jahrgänge nun das Alter erreicht haben oder bald erreichen werden, in dem sie selber Kinder haben.
Verschärft wurde der Geburtenrückgang durch frei verfügbare Verhütungsmittel, die zu Sowjetzeiten nur schwer zu erhalten waren. Hinzu kam eine unfassbar hohe Zahl von Abtreibungen: Die Häufigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen war in Russland 2010 weltweit am höchsten. 1992 standen gemäss einem Bericht der RAND-Corporation 225 Abtreibungen 100 Geburten gegenüber, und auch noch im Jahr 2000 wurden rund 70 Prozent aller Schwangerschaften abgebrochen.
Die Fertilitätsrate fiel von 2,2 Kindern pro Frau in den späten Achtzigerjahren auf zeitweise weniger als 1,2 Kinder pro Frau. In entwickelten Gesellschaften gilt eine Fertilitätsrate von 2,1 Kindern pro Frau als Schwellenwert für den Bestandserhalt der Bevölkerung: Sinkt die Fertilitätsrate unter diesen Wert, schrumpft die Bevölkerung ohne Zuwanderung. Dies ist heute in den meisten Industrieländern der Fall.
Trotz der sinkenden Fertilitätsrate und der Abwanderung von Russlanddeutschen nach Deutschland sowie von Juden nach Mitteleuropa, Nordamerika oder Israel ging die russische Bevölkerung von 1990 bis 2010 nicht massiv zurück. Dies liegt vornehmlich daran, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine starke Zuwanderung von ethnischen Russen aus den nicht-russischen ehemaligen Sowjetrepubliken nach Russland einsetzte. Die Russen hatten in diesen Staaten zuvor eine dominierende Gesellschaftsgruppe gebildet. Nach der Unabhängigkeit wurden sie zu einer Minderheit, die überdies die nationalen Sprachen grösstenteils nur schlecht beherrschte.
In Wahrheit aber zeigte sich in den Neunzigerjahren ein düsteres demografisches Bild: Die Geburtenrate und die Lebenserwartung sanken, die Sterberate stieg. 1990 standen noch 13,4 Geburten pro 1000 Einwohner 11,2 Sterbefällen gegenüber, doch 1992 überstiegen die Sterbefälle die Geburten und 1994, als die Krise ihren Höhepunkt erreichte, waren es nur noch 9,6 Geburten, aber dafür 15,7 Sterbefälle pro 1000 Einwohner. Dies markierte «den Beginn einer neuen, gefährlichen Phase der demografischen Krise».
Das Phänomen, dass die Sterberate die Geburtenrate übertraf, war in Russland zum ersten Mal in Friedenszeiten zu beobachten; seine grafische Entsprechung fand unter der Bezeichnung «Russian Cross» («russisches Kreuz») Eingang in die Fachliteratur. Das «Russian Cross» ist in der Grafik oben klar zu erkennen: 1992 kreuzen sich die blaue und die schwarze Linie nahezu rechtwinklig.
Während die russische Geburtenrate etwa jener von anderen entwickelten Ländern entspricht, ist die Sterberate deutlich höher, und zwar vornehmlich bei Männern im Arbeitsalter. Eine der Hauptursachen für die hohe Sterberate liegt in den Mängeln des unzureichend alimentierten Gesundheitswesens. Seit den Sechzigerjahren fiel Russland bei der Bekämpfung von Krebs sowie Herz- und Kreislauferkrankungen weit hinter den Westen zurück. Auch die Kindersterblichkeit ist höher als im Westen.
Die Gründe für die höhere Sterberate der russischen Männer – deren Lebenserwartung war zwischenzeitlich eine der niedrigsten weltweit – liegen hauptsächlich in einer weit verbreiteten ungesunden Lebensweise (hoher Alkoholkonsum, Rauchen), daneben spielen auch Verkehrsunfälle eine Rolle – in Russland sterben pro 100'000 Einwohner durchschnittlich 18 Personen im Verkehr, in der Schweiz 2,7. Hinzu kommen höhere Zahlen von Suiziden und Tötungsdelikten (9,2 pro 100'000 Einwohner gegenüber 0,5 in der Schweiz).
Ab etwa 2012 stellte sich eine leichte Erholung ein, als Geburten- und Sterberaten sich einander wieder annäherten. Von 2013 bis 2016 gab es wieder mehr Geburten als Todesfälle; die russische Bevölkerung wuchs erstmals seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Dies war darauf zurückzuführen, dass nun die geburtenstarken Jahrgänge der Achtzigerjahre in das Alter kamen, in dem sie Kinder hatten.
Zudem wirkten sich offenbar die bessere wirtschaftliche Lage und das 2007 eingeführte Programm zur Geburtenförderung positiv auf die Geburtenrate aus; dazu sank die Sterberate. Auch die Lebenserwartung, die noch zwischen 1991 und 2003 gesunken war (bei den Männern um 4,9 Jahre, bei den Frauen um 2,4 Jahre), nahm nun wieder zu.
Putins 2012 verkündeter Plan, dass die russische Bevölkerung bis 2050 auf 154 Millionen Einwohner zunehmen solle, schien plötzlich wieder realistisch. Doch 2017 sank die Zahl der Geburten plötzlich stark – und nahm danach bis 2021, dem Jahr mit den letzten verfügbaren Zahlen, weiter ab. 2020 war zusätzlich ein steiler Anstieg der Todesfälle zu verzeichnen, der sich 2021 ungebremst fortgesetzt hat. Zwischen März 2020 und Januar 2022 starben rund 1 Million Menschen mehr, als gemäss Zahlen aus den Jahren von 2015 bis 2019 zu erwarten gewesen wären. Diese Übersterblichkeit ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auf die Corona-Pandemie zurückzuführen.
Der Geburtenrückgang ab 2017 ist zum einen eine Folge davon, dass nun die geburtenschwachen Jahrgänge der Neunziger an der Reihe sind, Kinder zu haben. Die Zahl der Russen, die kurz vor oder während des Zusammenbruchs der Sowjetunion geboren wurden und jetzt zwischen 30 und 34 Jahre alt sind, beläuft sich auf etwa 12,5 Millionen. Dagegen sind es nur gerade 6,5 Millionen im Alter von 20 bis 24 Jahren, die in den schwierigen Zeiten der späten Neunziger geboren wurden. Diese schmalere Basis wird sich nahezu unweigerlich in einer weiter sinkenden Zahl der Geburten manifestieren.
Zum andern aber dürfte auch die Wirtschaftslage eine Rolle spielen: Sie hat sich seit 2015, auch unter dem Einfluss der westlichen Sanktionen nach der Annexion der Krim, deutlich verschlechtert. Das russische BIP ist nach wie vor kleiner als 2014, vor dem Beginn der Sanktionen. Niedriger Ölpreis, Sanktionen und eine schwache Binnennachfrage führten zu einer Rezession; die Abwertung des Rubels befeuerte die Inflation und verringerte die Realeinkommen, während die Arbeitslosigkeit anstieg.
Dieser ökonomische Niedergang wird sich aller Voraussicht nach durch den Krieg mit der Ukraine und die neuen, wesentlich härteren westlichen Sanktionen drastisch verstärken. Ökonomen schätzen, dass die Einkommen in Russland aufgrund der Sanktionen zwischen 12 und 15 Prozent sinken werden. Dies wird sich vermutlich bereits im nächsten Jahr in einer sinkenden Fertilitätsrate bemerkbar machen. Der Demograf Alexej Raschka glaubt, dass sie im nächsten Jahr oder in den nächsten beiden Jahren bis zu 10 Prozent sinken könnte. 2023 drohe ein Kollaps, falls es Moskau nicht gelinge, substantielle finanzielle Anreize zu schaffen, sagte er der «Financial Times».
Der Krieg verschärft das demografische Problem überdies nicht nur durch den Verlust von zehntausenden jungen Männern, sondern auch dadurch, dass er den Brain Drain aus Russland anheizt. In den vier Wochen seit Beginn des Einmarschs in der Ukraine haben laut einem Bericht einer parlamentarischen Kommission 50'000 bis 70'000 Mitarbeiter aus dem Tech-Sektor das Land verlassen. Im April könnten es weitere 70'000 bis 100'000 sein. Die Bemühungen des Kremls, diese jungen Personen mittels Befreiung vom obligatorischen Militärdienst und finanzieller Vergünstigungen im Land zu halten, haben offenbar ihr Ziel verfehlt.
Die demografische Krise trifft auch die russische Armee. Die geburtenschwachen Jahrgänge von Ende der Neunziger- und Anfang der Nullerjahre bilden nun das Reservoir, aus dem die Armee ihre Mannstärke von rund 900'000 schöpfen muss. Dies bedeutet, dass Verluste weit weniger einfach ausgeglichen werden können.
Russia’s demographic crisis is about to get kicked into high gear.
— Eli Dourado (@elidourado) April 4, 2022
The crisis among ethnic Russians is even worse than the pyramid below indicates.https://t.co/sHGFGreQIK pic.twitter.com/cryxHekZrK
Und das demografische Problem der russischen Armee wird sich voraussichtlich drastisch verschärfen. Ein UNO-Bericht aus dem Jahr 2019 – also noch vor der Corona-Pandemie und dem Krieg – hat für 2020 die Zahl der Männer zwischen 20 und 34 Jahren auf 14,25 Millionen veranschlagt. Diese Zahl werde laut der mittleren Schätzung voraussichtlich bis 2025 auf nur noch 11,55 Millionen sinken – und bis 2030 sogar auf 11,23 Millionen. Falls diese Prognosen zutreffen, heisst das, dass die Zahl der wehrfähigen Männer im Lauf der Zwanzigerjahre um etwa 20 Prozent abnehmen wird.
Bereits jetzt zieht aber Russland einen vergleichsweise hohen Anteil der wehrfähigen Männer zum Militärdienst ein. Dies wird augenscheinlich, wenn man den Grad der Militarisierung der 20- bis 34-jährigen Männer mit anderen Ländern vergleicht. Diese «Militarisierungsquote» hat zwar ihre Tücken, da 18- und 19-Jährige sowie Frauen (diese machen etwa 5 Prozent der russischen Truppenstärke aus) nicht mit einberechnet werden, aber sie kann gleichwohl zu Vergleichszwecken herangezogen werden.
Um eine Mannschaftsstärke von 900'000 aufrechtzuerhalten, müsste Russland die Quote 2025 auf 7,79 Prozent und 2030 auf 8,01 erhöhen. Bei anderen Staaten sah die Quote 2020 wie folgt aus:
Der Kreml kann das demografische Problem seiner Streitkräfte beispielsweise lindern, indem er den einjährigen Wehrdienst auf zwei Jahre ausdehnt. Dies dürfte jedoch auf Widerstand in der Bevölkerung stossen und zudem wirtschaftliche Nachteile nach sich ziehen. Eine weitere Möglichkeit läge darin, vermehrt Frauen zum Wehrdienst heranzuziehen oder Freiwillige mit finanziellen Anreizen zu ködern. All diese Massnahmen würden freilich das grundlegende demografische Problem nicht lösen.
Dieses lässt sich auch mit finanziellen Zuschüssen schon für das erste Kind nicht strukturell lösen, wie Putin es bereits versucht hat. Und auch weitere unkonventionelle Massnahmen, um die russische Bevölkerung zu vergrössern, dürften eher kosmetischer Natur sein: Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Tass sagte ein russischer Abgeordneter im Februar, 770'000 Personen aus den russisch kontrollierten Teilen der ukrainischen Donbass-Region hätten die russische Staatsbürgerschaft erhalten. Bereits die Annexion der Krim brachte Russland einen – wenngleich auch international nicht anerkannten – Zuwachs von rund 2 Millionen Menschen.
Womöglich bezweckt die expansionistische Politik des Kremls unter anderem tatsächlich auch, den Bevölkerungsrückgang Russlands durch den Anschluss ukrainischer Gebiete zu bremsen. Ganz abgesehen davon, dass aus allenfalls einverleibten ukrainischen Bevölkerungsgruppen wohl kaum loyale Untertanen des Kremls würden, dürfte dies zum Scheitern verurteilt sein: Durch den Krieg in der Ukraine hat Putin die demografische Krise, die er so fürchtet, nur noch angeheizt.
Mit diesem Hintergrund ein weiteres Ziel, in dem Putin das Gegenteil davon erreicht, was er eigentlich will.
Er zerstört nach und nach Russland, das er wie er sagt doch beschützten will.
Ich dachte, ein solches demographisches Problem löst man eben gerade nicht mit dem Finger …?
Evt. wagt niemand, den Kremlchef richtig aufzuklären.
Da kann ein Krieg helfen. Ein Krieg aber gegen Korruption und für Rechsstaatlichkeit im eigenen Land.