Man kann es mit Bob Dylan singen – «the answer ist blowin’ in the wind» – oder Shakespeares Hamlet bemühen – «sein oder nicht sein» –, Tatsache bleibt, dass derzeit niemand mehr die Antwort auf die Frage weiss, ob Joe Biden standhaft bleiben und an seiner Kandidatur festhalten oder Einsicht zeigen und würdevoll zurücktreten soll. Es ist zum Haareraufen!
Dabei schien am Wochenende noch alles klar zu sein. Alle Zeichen deuteten auf einen Rücktritt hin. Bidens Dementi wurden dahingehend interpretiert, dass er damit der Partei Zeit verschaffen wolle, um einen gemeinsamen Nenner für die Nachfolge zu finden. Führende Demokraten überschütteten Biden derweil mit Lob über seine Errungenschaften in der Hoffnung, ihm so einen möglichst schmerzfreien Rückzug zu ermöglichen. Sein Interview mit George Stephanopoulos auf ABC News wurde als artig, aber letztlich irrelevant abgetan.
Dass er sich zurückziehen würde, schien eigentlich beschlossene Sache zu sein. Zu klar sprachen die Fakten: Nur noch 35 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner sind der Meinung, Biden mache einen guten Job. Mehr als 70 Prozent der Demokraten glauben, er sei zu alt dafür.
Nate Silver, der bekannteste Meinungsforscher der USA, hielt daher in einem Gastkommentar in der «New York Times» fest: «Eine Chance von 35 Prozent ist nichts. Mr. Biden hätte nicht bloss seinen Status quo verteidigen, sondern das Rennen aufmischen müssen. Stattdessen hat er sich noch tiefer in den Sumpf geritten.»
Für Silver ist das Rennen gelaufen. Er gibt den Demokraten folgenden Rat mit auf den Weg: «Poker-Spieler wie ich und erfahrene Risikoträger – ob Astronauten oder Venture-Kapitalisten – verstehen, wie wichtig es ist, mit unvollständigen Informationen umzugehen. Und sie wissen, dass nichts zu unternehmen gelegentlich das grösste Risiko ist.»
Diese Einsicht machte sich auch bei den Demokraten breit. Die Stimmen, welche Biden zum Rücktritt aufforderten, mehrten sich. Noch waren keine Prominente dabei, doch es sickerte durch, dass etwa Senator Mark Warner im Begriff sei, eine Gruppe von Gleichgesinnten zusammenzutrommeln in der Absicht, Biden zur Vernunft zu bringen.
Das war die Lage am Sonntag. Abgeordnete und Senatoren haben offenbar von ihren Wählerinnen und Wählern über das Wochenende eine ganz andere Botschaft mitgekriegt. Die Basis will an Biden festhalten. Am Montag hat sich der Ton daher merklich verändert. Senator Warner hat sein Ansinnen wieder abgeblasen, und in den Medien melden sich jetzt Stimmen, die Biden auffordern, durchzuhalten.
Es handelt sich um prominente Stimmen. Bernie Sanders beispielsweise erklärte gegenüber der TV-Station CBS, Biden sei ganz klar in der Lage, Trump zu schlagen. «Er ist alt. Er ist nicht mehr so sprachgewandt wie einst. Ich wünschte, er könnte noch die Treppen von Airforce One herunterhüpfen. Er kann es nicht. Aber wir müssen uns auf seine Politik konzentrieren – und von seiner Politik profitiert die grosse Mehrheit in diesem Lande.»
Ebenfalls mächtig ins Zeug für Biden legt sich John Fetterman. Der Senator aus dem Bundesstaat Pennsylvania hatte vor seiner Wahl einen Gehirnschlag erlitten und wurde deswegen ebenfalls für unfähig erklärt, das Amt auszuüben. Seither hat er alle Kritiker vom Gegenteil überzeugt und glaubt, dass auch Biden dies tun werde.
Obwohl mit Vizepräsidentin Kamala Harris eine Farbige als aussichtsreichste Kandidatin für einen Biden-Ersatz gilt, stehen gerade die Schwarzen offenbar hinter dem Präsidenten. Maxine Waters, eine streitbare Abgeordnete aus Kalifornien und mit 85 Jahren älter als Biden, erklärt unmissverständlich: «Es wird keinen anderen demokratischen Kandidaten geben – es wird Biden sein.»
Die unselige Debatte hat auch die bisherige Sichtweise auf den Kopf gestellt. Galt bisher Biden als Inbegriff des Partei-Establishments, ist er plötzlich zum Aussenseiter geworden. Jetzt kämpft ausgerechnet der langjährige Senator und ehemalige Vize-Präsident gegen Washingtons Insider, gegen die Clintons, Obamas, Schumers und Pelosis. Er wird gejagt von den liberalen Mainstream-Medien wie der «New York Times», der «Washington Post» und MSNBC. Durchaus möglich, dass ihm diese Sichtweise neuen Wind unter den Flügeln verschaffen wird.
Heisst dies, dass Biden aus dem Schneider ist? Keineswegs. Es zeigt jedoch, dass die Demokraten derzeit durchgeschüttelt werden wie schon lange nicht mehr. Und es zeigt, wie volatil die Situation in der Partei derzeit ist.
So steht neuerdings der Vorschlag einer Mini-Vorwahl zur Debatte. Eingebracht wurde er von Jim Clyburn, einem sehr einflussreichen Abgeordneten aus South Carolina. Dieser hat vor vier Jahren massgeblich dafür gesorgt, dass Biden die Vorwahlen nach einem schwachen Start noch für sich entscheiden konnte.
In einem Interview mit CNN erklärte Clyburn: «Man könnte das laufende Auswahlverfahren in eine Mini-Vorwahl umwandeln. Ich würde das absolut unterstützen.» Ob Biden da mitmachen wird, ist jedoch fraglich.
Andererseits muss sich der Präsident in den nächsten Tagen ernsthaft fragen: Soll er sich wirklich auf ein zweites Duell mit Trump einlassen? Er, der vom Sonderermittler Robert Hur als «älterer Mann mit einem schlechten Gedächtnis» bezeichnet wurde. Er, der damit rechnen muss, dass jeder Nebensatz und jedes Straucheln sofort gegen ihn verwendet wird, und er, der weiss, dass Historisches auf dem Spiel steht?
Umfragen geben derzeit keine Antwort auf diese brennende Frage. Auch Trump hat miserable Werte. Die Wahl kann daher nach wie vor auf beide Seiten kippen. Die Antwort weiss derzeit wirklich nur der Wind.