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Macrons Kommentare kommen zur Unzeit, aber er hat recht

President Joe Biden and French President Emmanuel Macron talk after a toast during a State Dinner on the South Lawn of the White House in Washington, Thursday, Dec. 1, 2022. (AP Photo/Andrew Harnik)
Will nicht bloss Anhängsel sein: Emmanuel Macron (rechts) bei US-Präsident Joe Biden (Dezember 2022).Bild: keystone
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Europa als «Mitläufer» Amerikas? Macrons Kommentare kommen zur Unzeit, aber er hat recht

Der französische Präsident provoziert mit US-skeptischen Äusserungen. Eine Auseinandersetzung mit seinen Argumenten lohnt sich trotzdem, vor allem mit Blick in die Zukunft.
12.04.2023, 05:4612.04.2023, 05:47
Remo Hess, Brüssel / ch media
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Emmanuel Macron hat es wieder getan: Nachdem er der Nato 2019 den «Gehirntod» attestiert hatte, brüskiert er die westlichen Verbündeten erneut mit unerwarteten Äusserungen. Europa riskiere, zum «Vasallen» und «Mitläufer» einer konfrontativen US-Haltung gegenüber China zu werden, erklärte der französische Präsident gegenüber Journalisten auf dem Rückflug von seinem Staatsbesuch in Peking.

Es ist bezeichnend, dass das Interview auf 10'000 Metern hoch über den Wolken stattgefunden hat: ein abgehobener, von der Realität losgelöster Präsident schiesst ausgerechnet gegen jene Alliierten, die nicht nur Europa zweimal von den Schrecken des Weltkriegs befreit haben, sondern aktuell auch in der Ukraine die Kohlen aus dem Feuer holen.

Dass Macron mit den Rentenprotesten zu Hause längst zur Reizfigur geworden ist, rundet das Bild ab. Nach dem innenpolitischen Absturz habe Macron nun «aussenpolitisch seinen Bankrott erklärt», lässt die «Süddeutsche Zeitung» das Fallbeil niedersausen.

Interessant ist, dass es im offiziellen Europa bis auf einzelne Reaktionen verdächtig ruhig geblieben ist. Das dürfte daran liegen, dass manch europäischer Staatschef, vor allem in Westeuropa, insgeheim mit Macrons Analyse einiggeht. Sie können sich jetzt gut hinter dem Franzosen verstecken.

Als Trump Präsident noch war, wollten alle mehr Distanz zu den USA

Selbstverständlich haben die «Wertepartner» USA und Europa, wenn es um China geht, ähnlich gelagerte Interessen. Aber sie sind eben nicht deckungsgleich. Sich komplett vom grössten Handelspartner in Fernost abzukoppeln, wie es die Amerikaner fordern, ist in Europa und speziell in Deutschland nicht mehrheitsfähig.

Sollten die Chinesen sich entschliessen, Russland Waffen für seinen Krieg gegen die Ukraine zu liefern, wird das transatlantische Band einem weiteren Stresstest unterzogen werden. Die USA haben für diesen Fall bereits ein Sanktionsregime in petto, das sie per Knopfdruck auslösen können. Die Europäer werden sich dann entscheiden müssen, ob sie mitziehen wollen. Versucht China Taiwan zurückzuholen, wird der Interessensausgleich noch schwieriger, da hat Macron recht.

Die Empörung über Macrons zweite Forderung, sich auch von der wirtschaftlichen und militärischen US-Abhängigkeit zu emanzipieren, verwundert ebenfalls. Vor kurzer Zeit, als im Weissen Haus noch Präsident Donald Trump und nicht Joe Biden sass, war das nämlich europäischer Konsens. Auf die USA, die manche schon am Rande eines Bürgerkriegs sahen, könne man sich nicht mehr verlassen, hiess es damals.

Jetzt haben wir selbst Krieg in Europa und ausser Macron spricht niemand mehr von der «europäischen Souveränität». Aber wie sieht es aus, wenn in den USA demnächst wieder Trump oder ein Gleichgesinnter auf dem Chefsessel Platz nimmt? Dann werden die Rufe nach mehr europäischer Eigenständigkeit wieder zunehmen.

Das eine tun und das andere nicht lassen

Das Problem ist, dass die notorisch zerstrittenen Europäer es auch auf absehbare Zeit nicht schaffen, sich zusammenzuraufen. Die deutsch-französische Achse dreht unter Kanzler Olaf Scholz noch schlechter als unter Angela Merkel. Im Osten und im Baltikum ist angesichts der zögernden Haltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine das Misstrauen gegen Westeuropa noch gewachsen.

Dort baut man im Zweifel lieber auf die USA und setzt auch bei der Ausrüstung ihrer Armeen auf US-Material. Und ganz allgemein stellt sich die Frage, wer denn in Macrons souveränem Europa den Takt angeben sollte. Nach französischer Leseart ist es freilich Paris. Aber das sieht man in den anderen Hauptstädten und vor allem in Osteuropa sicher anders.

Gleichwohl lohnt sich eine Auseinandersetzung mit Macrons Argumenten. Sie mögen zwar zur Unzeit kommen, weil Europa heute mehr denn je auf die Allianz mit Amerika angewiesen ist: Als Versicherung für die Zukunft würde eine grössere Eigenständigkeit auch gegenüber den USA dem Kontinent aber guttun. Das muss auch nicht zu einem transatlantischen Bruch nach dem Muster «Entweder – oder» führen. Vielmehr dürfte das Motto lauten: Das eine tun und das andere nicht lassen. (bzbasel.ch)

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139 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Katerchen
12.04.2023 06:48registriert März 2023
Um geopolitisch mehr Gewicht zu erhalten müsste Europa neben ökonomischer Stärke viel mehr Militärische Stärke aufweisen. Europa insbesondere Deutschland hat in den letzten 70 Jahren sehr gut gelebt indem es die Verteidigungskosten grösstenteils an die ehemalige Besatzungsmacht USA ausgelagert hat.
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Oganira
12.04.2023 06:34registriert Dezember 2021
Er hat schon Recht, dass Europa nicht der ständige Mitläufer sein soll, hat sogar Trump einmal gesagt. Das grosse Problem ist, dass Europa militärisch eine Lachnummer ist.
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Swen Goldpreis
12.04.2023 07:21registriert April 2019
Das Problem ist nicht der grundsätzliche Gedanke, dass Europa unabhängiger werden sollte, sondern Timing und Kontext.

China bereitet sich auf einen Überfall auf Taiwan vor. Wenn Xi für den Angriff wirklich grünes Licht gibt, wird das die Welt umkrempeln. Ganze Lieferketten brechen zusammen, unsere Industrien, die auf Halbleiter angewiesen sind, gehen kaputt - auch die deutsche Autoindustrie. Und das ist noch das positive Szenario ohne Grosskrieg zwischen China und den USA.

Für die Sicherheit Europas ist es extrem wichtig, China vom Einmarsch abzuhalten. Macron sendet gefährliche Signale.
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