Von den USA bis nach Tschechien hagelt es Kritik an einem Interview Macrons auf seinem Rückflug aus China. Zur Taiwan-Frage sagte er: «Das Schlimmste wäre zu denken, dass wir Europäer Mitläufer sein sollen und uns dem amerikanischen Rhythmus und einer chinesischen Überreaktion anpassen müssen.»
In Deutschland fragten «Atlantiker» wie der CDU-Politiker Norbert Röttgen oder das linksliberale Magazin Spiegel, ob Macron «von Sinnen» oder «von allen guten Geistern» verlassen sei. Andere meinen, der Franzose werfe die berechtigte und aktuelle Frage auf, wie sich die Europäer nach allfälligen US-Sanktionen gegen Peking verhalten sollten.
Das sind mögliche Erklärungen für seine Aussagen:
Der 45-jährige Präsident ist beeinflussbarer, als es den Anschein macht. Der pompöse Empfang durch Chinas Präsidenten Xi Jinping wirkte bei Macron wohl bis auf den Rückflug nach – und damit auch Pekings Sichtweise, dass Taiwan eine innenpolitische Affäre sei; andere Länder, und seien das Frankreich oder die USA, gehe der «interne» Konflikt nichts an.
Laut Stimmen im Elysée-Palast sprach Macron die Taiwan-Frage nicht selbst an; Priorität hatte für ihn die Ukraine. Bewusst oder nicht übernahm der Franzose damit die Positionen Xis, so wie er schon nach zahllosen Telefongesprächen mit Wladimir Putin erklärt hatte, man dürfe den russischen Präsidenten «nicht erniedrigen».
Vor seiner Aussage über die europäischen «Mitläufer» hatte Macron schon Aufsehen erregt, als er die Nato unter US-Führung als «hirntot» bezeichnete. In Paris sind solche Meinungen, die von einem alten antiamerikanischen Reflex zeugen, seit Jahrzehnten gang und gäbe. Charles de Gaulle, Begründer der nuklearen «Force de Frappe», blieb dem Militärkommando der Nato fern und situierte sein Land auf gleicher Distanz zu den USA wie zur damaligen Sowjetunion.
Dass es US-Soldaten gewesen waren, die Frankreich von den Nazis befreit hatten, wird in Frankreich nicht vergessen, aber vom heroischen Diskurs über die Résistance und die Befreiung von Paris durch den französischen Panzergeneral Leclerc verdrängt.
Ähnlich verhält es sich auch heute im Krieg in der Ukraine, in dem die französische Militärhilfe bedeutend geringer ausfällt als die amerikanische. Umso mehr benötige Europa eine eigene, von den USA unabhängige Armee, um sich aus eigener Kraft verteidigen zu können, sagt Macron. Die Entscheidung über den Einsatz der französischen Atomwaffen will er aber nicht mit anderen teilen.
Dass sich Macron klar von der amerikanischen Taiwan-Politik abgrenzt, lässt sich auch als Retourkutsche nach der «Aukus-Affäre» lesen. Frankreich hatte Australien 2016 zwölf U-Boote im Wert von 34 Milliarden Euro verkauft; 2021 kündigte Australien den Vertrag aber auf Betreiben von US-Präsident Joe Biden, der mit Grossbritannien und Australien die neue Pazifik-Allianz «Aukus» gegen China lancierte.
Frankreich, das im Südpazifik über grosse Überseegebiete wie Polynesien oder Neukaledonien verfügt, fühlte sich betrogen. Seither erklärt Macron, die französischen Interessen im Pazifikraum entsprächen nicht den amerikanischen. Insbesondere habe Paris kein Interesse an einer Eskalation der Taiwan-Frage oder generell des Handelsstreites zwischen Washington und Peking.
Der französische Präsident fokussiert sich seit längerem wieder auf die Aussenpolitik, der prestigereichen Domäne des Staatschefs. Nach Staatsbesuchen in den USA und China reist Macron, kaum ist er wieder in Paris, diese Woche zu einem neuen Staatsbesuch in den Niederlanden.
Damit sucht er den Eindruck zu erwecken, er stehe über der innenpolitischen Krise rund um seine Rentenreform, die seit Wochen Millionen von Franzosen auf die Strasse treibt und am Freitag mit dem Entscheid des Verfassungsgerichtes ihrem Höhepunkt zutreibt.
Macron hält seine Minister an, volksnahe Anliegen wie Inflation, Energie oder Immigration zu thematisieren. Kritiker werfen ihm vor, er betreibe eine «Scheherazade-Strategie» – in Anlehnung an den orientalischen Klassiker Tausendundeine Nacht, in dem die Erzählerin jede Nacht eine neue Geschichte erfand.