Die Kanadier gelten gemeinhin als die Musterknaben in Nordamerika. Sie sind weniger laut, weniger nationalistisch, weniger kapitalistisch als ihre Nachbarn. Kurz: Sie gelten als die Netten. Wie wir Europäer haben sie einen Sozialstaat, und sie behandeln Immigranten anständig.
Oder doch nicht? Seit Wochen wird Kanadas Hauptstadt Ottawa von Truckern belagert, welche gegen die Covid-Massnahmen der Regierung protestieren. In diesen Protesten tauchen immer häufiger Symbole der Fascho-Szene auf: die Flagge der Südstaaten, QAnon-Plakate, ja sogar Nazi-Runen.
Auch White Supremacists dürfen nicht fehlen. Pat King, der als offizieller Vertreter der Demonstranten aufgeführt ist, bezeichnet Covid als eine «von Menschen gemachte Biowaffe» und behauptet, die Pandemie sei ein Komplott internationaler Financiers, mit dem Ziel, «die angelsächsische Rasse zu vertreiben». Der einzige Ausweg aus den ewigen Lockdowns kann gemäss King «nur mit Kugeln» erreicht werden.
Was ist also mit den so friedfertigen und toleranten Kanadiern los? Stephanie Carvin, eine ehemalige hohe kanadische Sicherheitsbeamtin, die heute an der Carleton University lehrt, erklärt gegenüber der «New York Times»:
Das politische System Kanadas ist grundsätzlich keine Brutstätte für Extremismus. Wie Grossbritannien und die USA kennen zwar auch die Kanadier ein Majorzsystem, will heissen: Wer am meisten Stimmen erhält, zieht ins Parlament ein. Anders als bei uns werden die Sitze im Parlament nicht gemäss einem Proporzsystem im Verhältnis zu den gewonnenen Stimmen verteilt.
Anders als die Amerikaner kennen die Kanadier jedoch keine Primärwahlen. Die Parteispitze bestimmt die Kandidaten. Gerade die amerikanischen Primärwahlen begünstigen die extremen Kandidaten. Eine Tea-Party- oder eine Make-America-Great-Again-Bewegung wie in den USA gibt es in Kanada nicht. Donald Trump ist wie in Europa selbst bei den Konservativen unbeliebt. «Es gibt zwar auch bei uns einen rechtsextremen Populismus», sagt Jeffrey Kopstein, ein kanadischer Politologe an der University of California. «Aber er ist sehr isoliert.»
In jüngster Zeit haben jedoch auch die kanadischen Populisten Auftrieb erhalten. Der Stimmenanteil der rechten People’s Party ist bei den letzten Wahlen von 5 auf 13 Prozent angestiegen. Schuld daran dürfte sein, dass der Anführer der Konservativen, Erin O'Toole, seine Partei in die Mitte führen wollte und damit scheiterte. Der Linksliberale Justin Trudeau konnte seine Mehrheit verteidigen, O’Toole wurde inzwischen abgesetzt.
Die Trucker-Proteste profitieren auch von der allgemeinen Covid-Müdigkeit, welche auch in Kanada weit verbreitet ist. Die «New York Times» zitiert eine junge Demonstrantin wie folgt: «Sie machen immer das Gleiche, und es funktioniert nicht. Sie müssen sich etwas Neues einfallen lassen. Wir wollen keine Lockdowns mehr, wir wollen wieder leben.»
Ein Irrtum wäre es indes, die Proteste als Erfolg der Anti-Impfbewegung zu betrachten. 88 Prozent der Kanadierinnen und Kanadier, die älter als vier Jahre sind, haben mindestens eine Impfdosis erhalten. Selbst viele der protestierenden Trucker geben – wenn auch ungern – zu, sie seien geimpft. Und bei den Protestierenden handelt es sich um eine Minderheit. Die offiziellen Gewerkschaften sind auf Distanz gegangen.
Auch bei der Bevölkerung geniessen die protestierenden Trucker wenig Sympathien, vor allem nicht in Ottawa. Dort haben die Menschen inzwischen die Schnauze voll vom Gehupe und den Blockaden der Trucker und fordern die Polizei auf, endlich energisch durchzugreifen und dem Spuk ein Ende zu bereiten.
Glückwünsche und Geld zuhauf erhalten die Trucker hingegen von der rechtsextremen Internationalen, vor allem aus den USA. Die Starmoderatoren bei Fox News stellen neuerdings die Proteste in Ottawa in den Mittelpunkt ihrer Sendungen. Der Tenor dabei: Die unterdrückten Arbeiter lehnen sich endlich gegen die sie verachtende Woke-Elite auf. Tucker Carlson geht dabei so weit, dass er gar Karl Marx zitiert.
Auch andere führende Köpfe aus dem Trump-Lager haben sich mittlerweile eingeschaltet. Dan Bongino, beispielsweise, ein populärer Blogger, der ebenfalls eine wöchentliche Sendung bei Fox News hat, sendet seine Glückwünsche nach Ottawa; oder der ehemalige Sicherheitsberater und QAnon-Anhänger Michael Flynn.
Die Trucker erhalten nicht nur Lob von ihren Gesinnungs-Nachbarn, sie erhalten auch viel Geld. Auf der Crowdfunding-Plattform GoFundMe sind rund acht Millionen Dollar für die Demonstranten einbezahlt worden, hauptsächlich aus den USA. Die Auszahlung ist allerdings inzwischen gestoppt worden, was wiederum ein Protestgeheul auf der rechten Seite ausgelöst hat. Am lautesten schreit dabei Ted Cruz, republikanischer Senator aus Texas.
Sind die Trucker-Proteste in Ottawa damit das Signal für eine breite rechtsextreme Bewegung geworden? Wohl kaum. Sie jedoch als «kleine Randbewegung» abtun zu wollen, wie dies Premierminister Trudeau tut, könnte ebenfalls zu kurz gesprungen sein. Die Politologin Carvin gibt zu bedenken: «So etwas haben wir in der kanadischen Politik noch nie erlebt. Wir befinden uns in unbekannten Gewässern.»
Wenn rechten Spinnern gar nichts mehr peinlich ist.
Es ist in Ottawa wie bei den Nulldenkern vor dem Bundeshaus: eine extrem kleine Minderheit, dafür extrem laut.
Diese globalen Player nutzen gerne lokale Gruppierungen für unterschiedlichste Zwecke und ob das nun Faschisten, religiöse Extremisten oder teilweise auch Ökofundis sind interessiert sie dabei wenig.