«Es mag sein, dass ihr mich nicht mögt, aber ich garantiere für die Sicherheit von Israel.» Mit diesem Versprechen kann sich Benjamin «Bibi» Netanjahu seit rund 14 Jahren an der Macht halten. Der 7. Oktober hat jedoch gezeigt, dass dies ein hohles Versprechen ist. Die Regierung, das Militär und die Geheimdienste haben die tödliche Gefahr eines Hamas-Angriffes sträflich unterschätzt und den schlimmsten Mord an Juden seit dem Holocaust ermöglicht.
«Das Versagen des israelischen Geheimdienstes bezüglich des 7. Oktobers ähnelt immer mehr unserem Versagen bei 9/11», stellt denn auch der pensionierte CIA-Mann Ted Singer in der «New York Times» fest. «Dieses Versagen zeigt, dass die militärische und die politische Führung hätten wissen müssen, dass die Hamas den Angriff geplant hatte.»
Tatsächlich lag massgeblichen israelischen Stellen schon vor rund einem Jahr ein 40 Seiten umfassender Bericht vor, der die Absichten der Hamas schilderte. Das hat die «New York Times» nun enthüllt. Das Dokument, sinnigerweise mit dem Titel «Mauern von Jericho», nimmt vorweg, was sich am 7. Oktober tatsächlich ereignet hat. Es enthält Details über die Stellungen der israelischen Soldaten, über Kommunikationszentralen und andere bedeutende Informationen. Selbst die Gleitschirme, mit denen Hamas-Kämpfer die Mauern überwunden haben, werden aufgelistet.
All dies wurde von israelischen Stellen in den Wind geschlagen. «Das Dokument zirkulierte breit unter den Führern des israelischen Militärs und des Geheimdienstes», so die «New York Times». «Aber die Experten beschlossen, dass ein solcher Angriff jenseits der Möglichkeiten der Hamas sei.»
Wie sträflich die Warnungen ignoriert wurden, zeigt beispielhaft das Verhalten eines Generals der Gaza-Division. Als er von Trainings der Hamas-Kämpfer unterrichtet wurde, lobte er zwar eine Analyse, doch er bezeichnete das geschilderte Szenario als «reine Einbildung». «In Kürze: Lasst uns abwarten», schrieb er an den warnenden Analysten zurück.
Wie weit Netanjahu und andere Regierungsmitglieder Kenntnis vom Dokument hatten, ist nicht bekannt. Fest steht jedoch, dass er mit seiner Hamas-Politik gegen eine Wand gefahren ist. Der Premierminister wollte den Konflikt mit der Terror-Gruppe auf kleinem Feuer köcheln, er vertrat eine «shrinking the conflict»-Strategie. Nun aber ist dieser Konflikt nicht geschrumpft, sondern explodiert, und Netanjahu steht mit abgesägten Hosen da.
Schon vor den Enthüllungen der «New York Times» hat der Premierminister das Vertrauen der Israeli verloren. Eine am 22. und 23. November durchgeführte Meinungsumfrage zeigt, dass seine Regierungskoalition 23 der gegenwärtig 64 Sitze im Parlament, der Knesset, verlieren würde. Netanjahus Likud-Partei würde gar fast die Hälfte ihrer 32 Sitze verlieren. Das herausragende Merkmal dieser Umfrage ist jedoch die Tatsache, «dass sich mehr als Dreiviertel der Israeli wünschen, dass Netanjahu nach dem Krieg zurücktritt», stellt Politologin und Umfragespezialistin Dahlia Scheindlin in «Foreign Affairs» fest.
Heisst dies, dass sich in Israel ein politisches Erdbeben anbahnt, bei dem die Linken als Sieger hervorgehen? Wohl kaum. Die Israeli wünschen sich zwar Bibi auf den Mond, doch der Terrorangriff werde das Land wahrscheinlich noch weiter nach rechts treiben, spekuliert Demoskopin Scheindlin. Davon könnte dereinst Benny Gantz profitieren. Der ehemalige Stabschef der israelischen Armee politisiert rechts der Mitte. Bis zum Ausbruch des Krieges führte er die Opposition an. Jetzt ist er Mitglied der provisorischen Notregierung.
«Die aktuellen Umfragen zeigen, dass sich die Wähler der rechtskonservativen National Unity Partei von Gantz zuwenden», stellt Scheindlin fest. «Würden jetzt Wahlen stattfinden, würde gemäss einer Umfrage vom 24. November die Partei von Gantz 43 Sitze erringen, 11 mehr, als Likud bei den Wahlen 2022 gewonnen hat, und doppelt so viele, wie Likud sich derzeit erhoffen könnte.»
Angesichts dieser Stimmungslage der Israeli hat Netanjahu alles Interesse daran, den Krieg zu verlängern. Nur so kann er sich seiner Macht sicher sein, denn auch seine Koalitionspartner, die Fundamentalisten am ganz rechten Rand, haben die Gunst der Wähler verloren. Wie lange er dem Druck nach Neuwahlen widerstehen kann, wird sich indes zeigen. An solchen Wahlen hat nämlich auch der wichtigste Verbündete Israels, die USA, grosses Interesse.
Die Amerikaner drängen auf eine Zweistaaten-Lösung, denn nur durch sie kann so etwas wie Frieden im Nahen Osten entstehen. Mit Netanjahu wird es diese Lösung nie geben, daran zweifelt inzwischen niemand mehr. Die Biden-Regierung will sie jedoch, und sie will sie jetzt, denn sie steht gleich doppelt unter Druck.
Die schrecklichen Bilder aus dem Gaza-Streifen und die inzwischen rund 15’000 zivilen Toten – darunter sehr viele Kinder – lösen nicht nur in der arabischen Welt Entsetzen und Wut aus. Die sanfte Annäherung verschiedener Staaten im Zuge des Abrahams-Abkommens ist daher in Gefahr, und die Option, dass sich auch Saudi-Arabien diesem Abkommen anschliessen wird, verkommt zunehmend zu einer Illusion.
Selbst in den USA wird das Gemetzel an Zivilisten nicht mehr widerstandslos hingenommen, vor allem nicht bei jungen Amerikanerinnen und Amerikanern. Senator Bernie Sanders – ein Jude – hat jüngst in einem Gastkommentar in der «Washington Post» gefordert, dass die Regierung die Hilfe an Bedingungen knüpft, den Krieg gezielter zu führen. Aussenminister Anthony Blinken drängt derweil in Jerusalem auf eine Verlängerung der Feuerpause.
Angenommen, Netanjahu tritt zurück, was dann? «Ein plausibler Ausweg aus der gegenwärtigen Krise scheint darin zu bestehen, dass sich Israel in Richtung einer Gantz-Regierung bewegt», stellt die Demoskopin Scheindlin fest. Das Problem der Amerikaner wäre damit allerdings nicht gelöst. Auch Gantz ist kein Freund einer Zweistaaten-Lösung. Noch vor Jahresfrist hat er auf die Frage, was er davon halte, geantwortet: «Ich bin dagegen.»