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Armenien: Das Wichtigste zum Angriff auf Bergkarabach in 4 Punkten

27 Tote, Dringlichkeitssitzung der UNO: Das Wichtigste zum Angriff auf Berg-Karabach

Die Sorge vor einem weiteren Krieg in Europa wächst. Nun hat Aserbaidschan einen Militäreinsatz zur Eroberung von Berg-Karabach gestartet. Was bislang bekannt ist.
20.09.2023, 06:1620.09.2023, 13:32
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Aserbaidschan hat am Morgen einen gross angelegten Militäreinsatz in Berg-Karabach gestartet. Die Konfliktregion liegt auf aserbaidschanischem Gebiet, wird aber mehrheitlich von Armeniern bewohnt.

Das Militär in Baku begründete den Militäreinsatz mit angeblichen Verstössen Armeniens gegen den geltenden Waffenstillstand. Die armenische Seite weist diese Vorwürfe als erfundenen Vorwand zurück.

Am Abend hiess es in einem Bericht von Gegam Stepanjan, Menschenrechtsbeauftragter der international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach, es gebe 27 Todesopfer, darunter zwei Zivilisten. Darüber hinaus seien in der Konfliktregion im Südkaukasus bislang mindestens 200 Menschen verletzt worden, darunter 29 Zivilisten – drei Frauen, zwei Kinder und zwei Männer –, teilte Stepanjan mit. Aus 16 Orten seien insgesamt rund 7000 Bewohner vor dem aserbaidschanischen Beschuss in Sicherheit gebracht worden.

Das sagt Aserbaidschan

Im Südkaukasus hat die Ex-Sowjetrepublik Aserbaidschan einen neuen Militäreinsatz in der Konfliktregion Berg-Karabach gestartet.

Das aserbaidschanische Verteidigungsministerium begründete den Einsatz am Dienstag als «Antiterroroperation lokalen Charakters zur Wiederherstellung der verfassungsmässigen Ordnung» in der Region.

Der Mitteilung aus Baku zufolge dient der Militäreinsatz dazu, den nach dem letzten Berg-Karabach-Krieg 2020 im Waffenstillstand festgeschriebenen Rückzug armenischer Truppen aus dem Gebiet durchzusetzen.

Es werde nur auf militärische Ziele geschossen, behauptete das aserbaidschanische Verteidigungsministerium. Videos, die auf Social Media kursierten, sollen etwa Angriffe auf armenische Luftabwehrsysteme zeigen:

Den Angaben aus Baku zufolge wurden zuvor zunächst eigene Stellungen von armenischer Artillerie angegriffen und mehrere Soldaten verletzt.

Am Abend forderte Aserbaidschan zudem als Bedingung für das Ende seines Militäreinsatzes die Niederlegung der Waffen und die Abdankung der armenischen Führung in der Region Berg-Karabach. «Die illegalen armenischen Militärverbände müssen die weisse Flagge hissen und alle Waffen abgeben, und das ungesetzliche Regime muss abdanken», heisst es in einer am Dienstag von örtlichen Medien verbreiteten Erklärung der Präsidialverwaltung in Baku. Anderenfalls würden die Kampfhandlungen bis zum Ende geführt, betonte die Führung der autoritär geführten Ex-Sowjetrepublik.

Das sagt Armenien

Armenien sieht das etwas anders. In einer von armenischen Medien am Dienstag verbreiteten Mitteilung des Aussenministeriums in Eriwan heisst es, dass «klare und eindeutige Schritte zur Beendigung der aserbaidschanischen Aggression» nötig seien.

Regierungschef Nikol Paschinjan hat wegen der Eskalation derweil eine Dringlichkeitssitzung des nationalen Sicherheitsrats einberufen.

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Nikol Paschinjan zusammen mit Wladimir Putin im Juni 2023.Bild: keystone

Gibt es da nicht noch eine Republik Arzach?

Arzach ist ein De-facto-Staat, der bis 2017 Berg-Karabach hiess. Die UNO und der Europarat betrachten das Gebiet – und somit die Konfliktregion – als Bestandteil Aserbaidschans. Da das Gebiet aber hauptsächlich von Armeniern bewohnt wird, sympathisiert Berg-Karabach eher mit Armenien denn mit Aserbaidschan.

Der frühere Regierungschef der Republik Arzach, Ruben Wardanjan, berichtete auf seinem Telegram-Kanal von massivem Artilleriefeuer auf das Gebiet. Er forderte als Konsequenz:

«Die Führung von Armenien muss Arzach anerkennen und sich dem Schutz unserer Bürger anschliessen.»

Gemäss einem AFP-Reporter waren in Stepanakert – der Hauptstadt von Arzach – Explosionen zu hören. Auf Videos waren ausserdem Sirenen und Schüsse zu hören.

Die Anschuldigungen aus Aserbaidschan – dass zunächst eigene Stellungen von armenischer Artillerie angegriffen und mehrere Soldaten verletzt worden seien – wies die aktuelle Führung von Arzach zurück.

Wie reagieren andere Länder?

Angesichts des aserbaidschanischen Angriffs auf die Südkaukasus-Region Berg-Karabach wird für Donnerstag eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates einberufen, wie aus Diplomatenkreisen verlautete. Zuvor hatte Armenien das Gremium um Hilfe gebeten. Am Rande der UN-Vollversammlung traf sich zudem Italiens Aussenminister Luigi Di Maio separat mit seinen Kollegen aus Aserbaidschan und Armenien und bot einer Mitteilung zufolge eine italienische Vermittlung an. Auch der Iran bot sich als Vermittler an.

Das russische Aussenministerium forderte einen Stopp der jüngsten Feindseligkeiten. «Wegen der schnellen Eskalation der bewaffneten Auseinandersetzungen in Berg-Karabach rufen wir die Konfliktparteien auf, das Blutvergiessen sofort zu beenden, die Kampfhandlungen einzustellen und Opfer unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden», hiess es in einer am frühen Mittwochmorgen veröffentlichten Mitteilung des russischen Aussenministeriums, wie die staatliche Nachrichtenagentur Tass berichtete.

Frankreich forderte Aserbaidschan am Dienstag dazu auf, seine Offensive unmittelbar zu beenden. Kein Vorwand könne eine solch einseitige Aktion rechtfertigen, die Tausende Zivilisten bedrohe.

epa10852378 French President Emmanuel Macron addresses a press conference at the international media center during the G20 Summit in New Delhi, India, 10 September 2023. The G20 Heads of State and Gov ...
Frankreichs Präsident hat mit dem armenischen Regierungschef telefoniert. Bild: keystone

Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron bekräftigte in einem Telefonat mit dem armenischen Regierungschef Nikol Paschinjan zudem seine Unterstützung für die territoriale Integrität Armeniens. Wie der Élyséepalast im Anschluss mitteilte, forderte Macron die Wiederaufnahme von Gesprächen, um zu einem gerechten und dauerhaften Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan zu kommen und den Bewohnern Berg-Karabachs Sicherheit und Rechte zu garantieren.

Der Iran hat derweil Vermittlung aus Teheran angeboten. Der iranische Aussenamtssprecher Nasser Kanaani forderte am Dienstag die Einhaltung des Waffenstillstandsabkommens von 2020 zwischen Aserbaidschan und Armenien, die beide eine Grenze mit dem Iran teilen. Erst vor wenigen Tagen hatte Irans Verteidigungsminister Mohammed-Resa Aschtiani vor einem Krieg in der Region gewarnt.

FILE - In this photo released on Aug. 11, 2022, by the Iranian Foreign Ministry, Foreign Ministry spokesperson Nasser Kanaani speaks in Tehran, Iran. Some $6 billion of Iranian assets once frozen in S ...
Der iranische Aussenamtssprecher Nasser Kanaani. Bild: keystone

Die Beziehungen zwischen Aserbaidschan und dem Iran sind traditionell schwierig. Die Führung in Teheran warf dem Nachbarland immer wieder vor, mit dem Westen und seinem Erzfeind Israel zu kooperieren. Der Iran wiederum unterhält wie Russland gute Beziehungen zu Armenien. Dennoch hatten sich jüngst hochrangige Militärvertreter aus Baku und Teheran für Gespräche getroffen und eine Vereinbarung zur Vertiefung der verteidigungspolitischen und militärischen Zusammenarbeit unterzeichnet.

Als Bedingung für das Ende des jetzigen Militäreinsatzes nannte Aserbaidschan die Niederlegung der Waffen und die Abdankung der armenischen Führung in der Region Berg-Karabach. International wurde Aserbaidschan für sein gewaltsames Vorgehen kritisiert. Bundesaussenministerin Annalena Baerbock etwa forderte: «Aserbaidschan muss den Beschuss sofort einstellen und an den Verhandlungstisch zurückkehren.»

Ähnlich äusserte sich US-Aussenminister Antony Blinken. In einem Telefonat mit Aserbaidschans Machthaber Ilham Aliyev betonte er, dass es keine militärische Lösung gebe und dass die Parteien den Dialog wieder aufnehmen müssten, wie der Sprecher des Aussenministeriums, Matthew Miller, mitteilte. Blinken habe die von Aliyev geäusserte Bereitschaft zur Kenntnis genommen, die Militäraktionen einzustellen und ein Treffen von Vertretern Aserbaidschans und der Bevölkerung Berg-Karabachs abzuhalten. Blinken unterstrich, dass dies sofort umgesetzt werden müsse. Rückendeckung für Baku kam hingegen aus der Türkei.

Die ebenfalls islamisch geprägte Türkei gilt als Schutzmacht Aserbaidschans, wohingegen das christlich-orthodoxe Armenien traditionell auf die Unterstützung Russlands setzt, das in der Region auch eigene Soldaten stationiert hat.

Worum geht's beim Konflikt überhaupt?

Das christlich-orthodoxe Armenien und das muslimische Aserbaidschan sind seit Langem verfeindet. Grösster Zankapfel zwischen Eriwan und Baku ist die Enklave Berg-Karabach, die zu Aserbaidschan gehört, aber von Armeniern bewohnt wird. Nach einem Krieg Anfang der 1990er Jahre hatte zunächst Armenien die Oberhand. In einem zweiten Krieg 2020 siegte das mit Geld aus dem Öl- und Gasgeschäft hochgerüstete Aserbaidschan und eroberte eigenes Territorium zurück.

In kürzeren Militäraktionen danach besetzte Baku auch etwa 150 Quadratkilometer armenisches Staatsgebiet. Das Aussenministerium von Armenien verlangte in der vergangenen Woche, dass Aserbaidschan diese Gebiete räume. Baku erwiderte, dass Armenien immer noch acht aserbaidschanische Dörfer besetzt halte.

Baku blockiert seit Monaten den Latschin-Korridor – die Verbindung der etwa 120'000 Karabach-Armenier nach Armenien. In dem Gebiet fehlt es an Lebensmitteln und Medikamenten.

Wer unterstützt wen?

Aserbaidschan wird in dem Konflikt von der Türkei unterstützt, während Russland als traditionelle Schutzmacht Armeniens an Einfluss verliert. «Infolge der Ereignisse in der Ukraine haben sich die Möglichkeiten Russlands verändert», sagte kürzlich Regierungschef Paschinjan in einem Interview mit dem US-Medium «Politico». Sein Land wolle künftig vermeiden, von äusseren Beschützern abhängig zu sein. (yam/jaw/sda/dpa)

Update folgt ...

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143 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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einnicknameweilmansichregistrierenmuss
19.09.2023 13:11registriert Oktober 2021
SOCAR Energy Switzerland ist ein Unternehmen von SOCAR, der staatlichen Energiegesellschaft der Republik Aserbaidschan.
https://www.socarenergy.ch/de-ch/ueber-socar.html#das-sind-wir

Viel Spass beim Tanken :)
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Andi7
19.09.2023 12:29registriert November 2019
Noch mehr Leid und das zu der Zeit, wo sonst schon zu viel Schlechtes läuft. War vor ein paar Jahren mal in Stepanakert, ein paar sehr schöne und gemütliche Tage mit sehr freundlichen Leuten.
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Hösch
19.09.2023 13:34registriert März 2022
Dieses Vorgehen dürfte wohl von Russland und vom Westen verurteilt werden. Einfach nicht gemeinsam.

Aber mehr Reaktion erwarte ich nicht.
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