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Sri Lanka: Das sind die Hintergründe der Eskalation

Massive Proteste, Krise und heroische Anwälte – das musst du zur Lage in Sri Lanka wissen

In Sri Lanka mangelt es an allem. Seit Monaten leidet die Bevölkerung unter einer schlimmen Wirtschaftskrise. Nach wochenlangen Protesten ist die Situation gestern eskaliert. Ein Überblick über die Geschehnisse.
10.05.2022, 16:1211.05.2022, 13:27
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Sri Lanka durchlebt seine schlimmste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Im Inselstaat südlich von Indien mit etwa 22 Millionen Einwohnern mangelt es an Lebensmitteln, Treibstoff, Benzin, Gas sowie Medikamenten – und dem Land fehlen die Devisen, um entsprechende Güter aus dem Ausland zu importieren.

Protestierende forderten angesichts dieser Situation den Rücktritt des Premierministers und des Präsidenten. Dieses Ziel erreichten sie teilweise: Inmitten heftiger Zusammenstösse zwischen Protestierenden und Regierungsanhängern ist der Premierminister Mahinda Rajapaksa am 9. Mai, zurückgetreten.

Wie ist es zu dieser Krise gekommen?

Chronologie der Eskalation

März 2022

Angesichts der andauernden Wirtschaftskrise und dem Mangel an essentiellen Gütern regte sich im März 2022 erstmals grösserer Widerstand in der Bevölkerung. Tausende Unterstützer der gegnerischen Partei protestierten am 16. März vor dem Büro des amtierenden Präsidenten Gotabaya Rajapaksa und forderten seinen Rücktritt.

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Premierminister Mahinda Rajapaksa mit seinem Bruder dem Präsidenten Gotabaya Rajapaksa.Bild: keystone

Am 31. März fanden sich die Protestierenden erneut in der Hauptstadt Colombo zusammen. Diesmal allerdings vor der privaten Residenz des Präsidenten. Der Protest sei friedlich gewesen, bis die Polizei gewaltsam eingegriffen habe, berichten Anwesende des Protests gegenüber «BBC News». Die Situation eskalierte, das Haus des Präsidenten wurde gestürmt. 45 Personen wurden festgenommen.

Einen Tag später tauchten 300 Anwälte vor der Mirihana Polizeistation in Colombo auf. Ihre Mission: Die festgenommenen Protestierenden kostenlos zu vertreten. Diese Mission setzten sie auch in den kommenden Wochen fort, wann immer Protestierende festgenommen wurden.

April 2022

Auch im April dauerten die Proteste an, weshalb der Präsident einen landesweiten Notzustand ausrief. Er verordnete eine Ausgangssperre und liess die Sozialen Medien wie Facebook, Whatsapp und Twitter vorübergehend blockieren, um weitere Versammlungen zu unterbinden. Damit schürte er die Wut in der Bevölkerung allerdings nur noch mehr, wodurch sich immer mehr Menschen und Gewerkschaften dem Protest anschlossen.

Wer sind Gotabaya und Mahinda Rajapaksa?
Gotabaya Rajapaska war schon vor Amtsantritt als Präsident ein bekanntes Gesicht. Als Verteidigungsminister war er massgeblich daran beteiligt, 2009 den langen Bürgerkrieg zu beenden. In Zuge dessen wird er allerdings auch der Menschenrechtsverstösse bezichtigt, was ihn zu einer kontroversen Figur macht.
Er stammt aus einer politisch einflussreichen Familie. Sein Bruder Mahinda Rajapaksa wurde 2005 zum Präsidenten Sri Lankas gewählt. Dieser konnte 2019 aufgrund einer Amtszeitbeschränkung allerdings nicht mehr zur Wahl antreten, worauf Gotaba Rajapaska für das Amt kandidierte und gewann. Mahinda Rajapaska übernahm daraufhin die Rolle des Premierministers.
Galle Face Green Sri Lanka colombo
Die Strand-Promenande «Galle Face Green».Bild: shutterstock

Am 9. April versammelten sich Protestierende beim «Galle Face Green» – einer 500 Meter langen Grünfläche mit Strand-Promenande im Finanz- und Geschäftszentrums Colombos. Sie brachten den Slogan «Occupy Galle Face» in Umlauf, worauf sich immer mehr Menschen in Zelten niederzulassen begannen. Das Camp wurde «Gota Go Gama» getauft, was auf Sinhala (die Sprache der ethnisch grössten Gruppe in Sri Lanka) so viel bedeutet wie «Gota Go Village».

Mai 2022

Am 9. Mai erreichten Rajapaksas Unterstützer «Temple Trees», die offizielle Residenz des Premierministers, und baten ihn, nicht zurückzutreten. Der Bürgermeister Moratuwas, der drittgrössten Stadt Sri Lankas, soll zu diesem Zweck acht Busse mit Menschen gefüllt haben. Diese sollen nach ihrer Ankunft in Colombo diverse kleinere Anti-Regierungs-Versammlungen angegriffen haben, bis sie schliesslich zum grossen Areal der «Gota Go Gama» vordrangen. Dem Präsidenten wird vorgeworfen, Geld für diese Angriffe bezahlt zu haben.

Auf Twitter kursieren zudem Videos, welche eine Gruppe von Häftlingen zeigt. Diese sollen ebenfalls auf Anordnung des Präsidenten freigelassen worden sein, um die Anti-Regierungs-Protestierenden auf dem «Gota Go Gama» Areal zu attackieren.

Erneut versuchten Anwälte die Situation zu deeskalieren. Sie stellten sich beschützend zwischen die friedlichen Protestierenden und die Polizei und Regierungsanhänger.

Dennoch kam es zu gewaltsamen Zusammenstössen, wobei die Polizei zunächst kaum eingegriffen haben soll. Schliesslich setzte sie aber Tränengas ein, um die beiden Gruppen aufzulösen. Ein grosser Teil der Zelte im «Gota Go Gama» Camp wurde zerstört.

Nach Bekanntgabe des Rücktritts des Premierministers gab das Verteidigungsministerium eine Ausgangssperre bekannt und forderte die Menschen auf, vorerst zu Hause zu bleiben. Ausnahmen gebe es nur für Menschen in unverzichtbaren Berufen, etwa im Gesundheitssektor, in der Telekommunikation, in den Medien oder im Export, hiess es. Das Chaos riss dennoch nicht ab. Gemäss Polizeiangaben seien bei den Zusammenstössen 6 Meschen getötet und 200 Menschen verletzt ins Krankenhaus gebracht worden.

Wie die Krise ihren Lauf nahm

Ihren Anfang genommen hat die Krise vor drei Jahren, als Gotabaya Rajapaksa sein Amt als Präsident aufnahm. Diverse externe Faktoren, sowie eine Reihe von Fehlentscheidungen stürzten das Land in eine tiefe Krise.

Steuersenkung

Präsident Rajapaksa nahm umfangreiche Steuersenkungen vor, was zu einem riesigen Loch im Staatsbudget führte. Dies wiederum hatte zur Folge, dass die Kreditwürdigkeit des Landes herabgestuft wurde, was die Aufnahme weiterer Schulden erschwerte. Präsident Rajapaksa zeigte sich ob dem massiven Einnahmeverlust aber unbeeindruckt – gemäss eigenen Angaben betrachtete er dies als Investition.

Geldschöpfung

Um die Staatsausgaben dennoch decken zu können, wurde die Zentralbank damit beauftragt, Rekordsummen an Geld zu drucken. Der Rat des Internationalen Währungsfonds (IWF), stattdessen die Steuern zu erhöhen, wurde ignoriert. Am 6. April 2022 seien angeblich 119,08 Milliarden Rupien gedruckt worden – dies entspricht 327 Millionen Franken. Damit schoss die Inflationsrate dieses Jahr auf ein Rekordhoch, was zu einer massiven Verteuerung der Lebenskosten führte.

Externe Schulden

Sri Lanka hat mit grosser Auslandsverschuldung zu kämpfen: Bis Ende dieses Jahres muss das Land 4 Milliarden Dollar an seine Schuldner zahlen. Die staatlichen Reserven belaufen sich Stand April 2022 allerdings nur auf 2,3 Milliarden Dollar. Sri Lankas Regierung hat deswegen entschieden, ihre hohen Schulden vorerst nicht zurückzuzahlen und diese stattdessen umzustrukturieren. Das Land steht in Gesprächen mit dem Internationalen Währungsfonds und hofft auf weitere finanzielle Hilfe aus China und Indien.

Die Lage hatte sich im letzten Jahr durch den sinkenden Wechselkurs der Landeswährung, ausbleibende Auslandüberweisungen, die steigende Inflation, sowie durch den pandemisch bedingten Tourismus-Einbruch weiter verschärft. Die Regierung rief im September 2021 den wirtschaftlichen Notstand aus.

Tourismus

Mit dem Terroranschlag am Ostersonntag 2019 erlebte der Tourismussektor in Sri Lanka schon vor der Corona-Pandemie einen Einbruch.

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Terroranschläge zu Ostern in Sri Lanka
Die Anschlagsserie in Sri Lanka auf Kirchen und Hotels hat weltweit Entsetzen und Empörung ausgelöst. Religiöse Führer und Politiker verurteilten die Angriffe, bei denen am Ostersonntag mehr als 310 Menschen getötet und hunderte weitere verletzt wurden. Unter den Todesopfern waren auch Ausländer.
quelle: ap/ap / rohan karunarathne
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Bei Bombenanschlägen auf drei Kirchen und drei Hotels starben 253 Menschen. 485 weitere Personen wurden verletzt. Mit den Einschränkungen der Corona-Pandemie erholte sich der Tourismus auch in der nachfolgenden Zeit nicht.

Landwirtschaftskrise

Im April 2021 erliess Präsident Gotabaya Rajapaksa ein komplettes Verbot für unorganische und chemische Düngemittel. Nur noch biologische Landwirtschaft sollte zugelassen werden – mit grossen Auswirkungen. Die Teeproduktion reduzierte sich ohne Düngemittel massiv, was mit wirtschaftlichen Verlusten von rund 425 Millionen Dollar zu Buche schlug. Auch die Reisproduktion ging allein in den ersten 6 Monaten um 20 Prozent zurück. Dies zwang die Regierung dazu, Reis für 450 Millionen Dollar zu importieren. Angesichts wochenlanger Proteste und steigenden Lebensmittelpreisen krebste der Präsident zurück und gab den Plan auf, das erste Land der Welt mit ökologischem Landbau zu werden.

Russland-Ukraine-Krieg

Die Folgen des Ukraine-Kriegs sind in Sri Lanka bereits zu spüren. Denn: Russland stellt den zweitgrössten Markt für Teeexporte dar. Zudem stammt üblicherweise ein Grossteil der Touristen in Sri Lanka aus Russland und der Ukraine.

Wie sich die Krise auswirkt

Strom- und Gasknappheit

Die fehlenden Gelder für Importe machen sich in verschiedenen Bereichen des Lebens bemerkbar. So auch in einem Mangel an Strom, Treibstoff und Kochgas. Die Situation war sogar so prekär, dass die Regierung Anfang März beschloss, alle Strassenlampen bis zum 31. März auszuschalten, um Strom zu sparen. Auch landesweit wurden täglich Stromunterbrüche verordnet – teilweise mit einer Dauer von bis zu 13 Stunden.

Aufgrund der Benzinknappheit sah sich die Regierung gezwungen, Soldaten an Tankstellen zu positionieren, um dort Spannungen einzudämmen.

epa09891491 Vehicles and motorcycles queue to fetch fuel from a gas station amid a fuel shortage in Colombo, Sri Lanka, 15 April 2022. Sri Lankan state-owned Ceylon Petroleum Corporation (CPC) announc ...
Fahrzeuge stehen Mitte April Schlange vor einer Tankstelle.Bild: keystone

Papierknappheit

Sri Lanka konnte sich auch den Papier-Import nicht mehr leisten. Zwei Tageszeitungen mussten deshalb das Drucken der Zeitungen aufgeben und auf E-Papers ausweichen. Im März 2022 mussten diverse Schulen ihre Semesterprüfungen auf unbestimmte Zeit verschieben oder ganz absagen. Regulär hätten sie am 28. März 2022 stattfinden sollen, konnten aber aufgrund des Papiermangels nicht durchgeführt werden.

Medizin- und Gerätemangel

Am 29. März mussten am Peradeniya Teaching Hospitals alle geplanten Operationen abgesagt werden. Grund: Ein Mangel an Medikamenten und Geräten. Auch andere Spitäler mussten viele Eingriffe suspendieren, sowie die Anzahl Labortests reduzieren.

Am 10. April gingen den Krankenhäusern sogenannte Endotrachealtuben aus. Diese werden für die Beatmung von Neugeborenen, Kleinkindern und Kindern gebraucht. Aus Not beschlossen viele Krankenhäuser Endotrachealtuben zu sterilisieren und wiederzuverwenden, um so die Lungen von Neugeborenen mit Sauerstoff zu versorgen.

Die Stromausfälle erschwerten die Situation zusätzlich. So mussten Ärzte und Ärztinnen Wunden im Dunkeln oder mit der Taschenlampe von Mobiltelefonen nähen, berichtet «CNN».

Wie es jetzt weitergeht

Die Anhänger beider Seiten hinterliessen eine Schneise der Verwüstung: Im Rahmen der Proteste sollen über 150 Fahrzeuge beschädigt worden sein. Zudem wurden gezielt Häuser und Büros von Politikern, sowie Angehörigen der Familie Rajapaksa gestürmt und angezündet. Regierungsanhänger wiederum griffen Politiker oppositioneller Parteien an.

Auch wenn der Jubel über den Rücktritt des Premierministers gross ist, fordern die Protestierenden weiterhin auch den Rücktritt des Präsidenten.

Der Präsident kann nun die Parlamentsmehrheit auffordern, einen neuen Premierminister zu stellen. Wer derzeit de facto die Mehrheit im Parlament hat, ist unklar. Theoretisch läge diese bei der Regierungspartei. Mehrere Abgeordnete hatten aber unlängst im Parlament erklärt, dass sie sich von der Partei abwenden würden.

Mit dem Rücktritt des Premiers verlieren auch alle Minister ihre Posten. Wenn ein neuer Premierminister bestimmt ist, soll der Präsident neue Minister auswählen. Diese sollen dann eine Übergangsregierung stellen.

Am Dienstag ist ein Treffen der Abgeordneten geplant, um einen neuen Premierminister zu bestimmen.

Die Spannung in der Bevölkerung ist nach wie vor gross. Auf Twitter rief der Präsident deshalb zur Ruhe und einem Ende der Gewalt auf:

Ich appelliere an die Menschen, Ruhe zu bewahren und Gewalt und Racheakte gegen Bürgerinnen und Bürger zu unterlassen, unabhängig ihrer politischen Zugehörigkeit.

Es werden alle Anstrengungen unternommen, um die politische Stabilität im Konsens und im Rahmen des verfassungsmässigen Mandats wiederherzustellen und die Wirtschaftskrise zu lösen.

Die Protestierenden denken allerdings nicht daran, mit ihrem Widerstand aufzuhören:

Das «Gota Go Gama» Camp befindet sich einen Tag nach den heftigen Zusammenstössen bereits wieder im Wiederaufbau.

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