Aufgrund der jüngsten politischen Krise steht Bangladesch derzeit wieder vermehrt im Fokus der internationalen Öffentlichkeit. Ungeachtet bleibt dabei eine Krise, die sich heute zum siebten Mal jährt: Am 25. August 2017 startete die Regierung in Myanmar eine brutale Militäroffensive und vertrieb 750'000 Rohingya aus ihrer Heimat.
Die muslimische Minderheit fand Zuflucht im benachbarten Bangladesch. Mittlerweile leben dort rund eine Million Rohingya im Distrikt Cox's Bazar – im grössten Flüchtlingslager der Welt.
Wie aus ursprünglich zwei kleinen Rohingya-Camps eine Ansiedlung mit rund 1 Million Einwohnern wurde – und wieso diese dennoch weit davon entfernt ist, eine Stadt zu sein. Und wie Hilfsorganisationen die Menschen trotz grosser Einschränkungen unterstützen.
Die Rohingya sind eine muslimische ethnische Minderheit, die schon vor Jahrhunderten in Myanmar (ehemals Burma) lebte. Eine Tatsache, welche die myanmarische Regierung nicht anerkennen möchte. Seit der Unabhängigkeit des südostasiatischen Staates 1948 werden die Rohingya von den Behörden marginalisiert, vertrieben und verfolgt. Seit 1982 ist die Diskriminierung sogar auf gesetzlicher Ebene verankert: Gemäss dem myanmarischen Staatsbürgergesetz gelten die Rohingya nicht als einheimische Bevölkerungsgruppe, womit sie keinen Anspruch auf die myanmarische Staatsbürgerschaft haben. Staatenlos in ihrer eigenen Heimat werden die Rohingya im Vielvölkerstaat praktisch von allen Teilen der überwiegend buddhistischen Bevölkerung diskriminiert.
Die seit Jahrzehnten andauernde Spannung eskalierte am 25. August 2017, als die Regierung nach Angriffen von Rohingya-Rebellengruppen die bislang grösste und brutalste Offensive startete. Tausende von Rohingya wurden brutal getötet, Frauen vergewaltigt und ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Die UNO sprach von einem «Musterbeispiel für ethnische Säuberung». Innerhalb von zwei Wochen flüchteten über 700'000 Menschen über die Grenze ins muslimische Nachbarland Bangladesch.
Trotz des plötzlichen und riesigen Ansturms seien die Rohingya 2017 von Bangladesch willkommen geheissen worden, erzählt Kamlesh Vyas. Der gebürtige Inder arbeitet seit 5 Jahren als Regionalkoordinator für Humanitäre Hilfe für Helvetas Bangladesch und kennt sich mit der Geschichte und den Herausforderungen der Rohingya im Camp aus.
Die Bangladescher, so Vyas, hätten sich gedacht: «Die Rohingya werden zurückgehen, sobald sich die Situation beruhigt hat.» Auch die Rohingya hatten vor, so bald wie möglich wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Abwegig war dieser Gedanke nicht. In den vergangenen Jahrzehnten war es schon öfter zu Fluchtbewegungen und anschliessenden Rückführungen nach Myanmar gekommen. So liessen sich über 700'000 Menschen provisorisch und notdürftig in Camps nieder.
Es gab Gespräche zwischen Myanmar und Bangladesch über Rückführungen der Rohingya in ihre Heimat, doch die Corona-Pandemie 2020 und der Militärputsch 2021 in Myanmar machten alle Fortschritte zunichte. Sieben Jahre später sind die Menschen noch immer dort.
Aus ursprünglich zwei offiziellen Flüchtlingscamps wurden 33 Camps. Die Mehrheit dieser Camps sind zu einer grossen und extrem dichten Einheit verschmolzen, kleine Bambushütten erstrecken sich so weit das Auge reicht. Dass es sich um verschiedene Camps handelt, ist von blossem Auge nicht erkennbar, erklärt Vyas. Auf dem Papier hingegen sind sie aufgeteilt: in Camps, in Blocks, in Haushalte.
Jedes Lager wird von Organisationen betreut, die von der Regierung zugewiesen wurden und jeweils für unterschiedliche Aufgaben zuständig sind. Verschiedene Sektoren unter der Leitung von UN-Organisationen leisten ebenfalls Unterstützung – etwa im Bereich der Ernährungssicherheit oder der Wasch- und Sanitärversorgung. Eine administrative Monsteraufgabe.
Betrachtet man dieses Satellitenbild, wo kaum noch grüne Flächen erkennbar sind, so könnte man meinen, dort befände sich eine Stadt. Davon ist die Ansammlung von Flüchtlingslagern aber weit entfernt.
Denkt man an eine Stadt, so denkt man an Hochhäuser, Unterhaltungsangebote, Arbeitsmöglichkeiten, Restaurants, Einkaufsstrassen, Sehenswürdigkeiten. Die Flüchtlingslager bei Cox's Bazar haben nichts davon – oder wenn, dann nur in rudimentärer Form. Sie sind als Notlösung für eine Krise entstanden und sieben Jahre später sind sie das – trotz geringfügiger Verbesserungen – noch immer. Als solche werden sie von der bangladeschischen Regierung auch behandelt, denn das Land hat noch viele andere Herausforderungen zu bewältigen. Der provisorische Charakter des Flüchtlingslagers wird anhand geltender Vorschriften und Einschränkungen deutlich:
Die diversen Einschränkungen in Cox's Bazar haben dazu geführt, dass das Camp zu einem eigenen wirtschaftlichen Kosmos geworden ist. Arbeit ist nur unter strengen Vorschriften möglich.
Die Menschen können beispielsweise beim Bau und der Reparatur von Strassen, Abflüssen und Häusern mithelfen und erhalten so von den NGOs in sieben Stunden etwa 350 Taka, erzählt Vyas. Mit den umgerechnet 2.67 Franken können sie weder Reichtum anhäufen, noch sich irgendwelchen Luxus leisten: Diesen gibt es ohnehin nicht. Das Angebot im Camp ist nur auf das beschränkt, was die Rohingya selbst herstellen oder produzieren können – wie etwa Gemüse.
Der Boden in Cox's Bazar ist eigentlich äusserst fruchtbar, viel freie Fläche für den Anbau von Gemüse gibt es in den Camps allerdings nicht. Aus diesem Grund unterstützt Helvetas die Bewohnerinnen und Bewohnern unter anderem dabei, vertikale Gärten zu kultivieren.
Was nach dem Eigengebrauch noch überschüssig ist, dürfen sie auf Märkten oder in Shops zum Verkauf oder Tausch anbieten. Lebensmittel wie Reis, Bohnen und Öl werden zwar von Organisationen wie dem World Food Program zur Verfügung gestellt, reichen allerdings oft nicht aus, um den Bedarf an Nährstoffen zu decken, erklärt Vyas.
Helvetas bietet auch Kurse an, damit die Menschen neue Skills erlernen können. So etwa lernen sie, wie sie selbst Kleider nähen oder Reparaturen am Haus vornehmen können. Auch hier betont Vyas:
Viele der Fähigkeiten, die sich die Rohingya in den Camps aneignen, sind nötig, um den saisonalen Herausforderungen zu trotzen. Die jährlichen Monsunniederschläge zwischen Juni bis Mitte Oktober sorgen immer wieder für massive Schäden. Aufgrund der restriktiven Bauvorschriften können die Menschen keine stabileren Häuser bauen.
Familien, die ihre Häuser auf Hügeln erbaut haben, leben während des Monsuns in ständiger Angst davor, von einem Erdrutsch mitgerissen zu werden. Die grossen Wassermassen machen durch Überschwemmungen und Erdrutsche zudem viele sanitäre Einrichtungen unbrauchbar und begünstigen die Verbreitung von Krankheiten.
Gemäss einer Studie der WHO (Weltgesundheitsorganisation) haben die Menschen nicht in allen Camps gleich guten Zugang zu Trinkwasser. In einigen Camps müssten sie teilweise zwischen 3 und 5 Stunden in einer Schlange stehen, um Wasser holen zu können, heisst es im Bericht. Auch Latrinen (eine Art Plumpsklo) gibt es zu wenig. Gemäss UNCHR-Standards (Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen) sollte in einer längerfristigen Unterkunft jeder Familie (4-6 Personen) eine eigene Latrine zur Verfügung stehen. In Cox's Bazar hingegen gibt es nur Gemeinschafts-Latrinen, die im Schnitt von etwa 20 Personen benutzt werden.
Sobald der Monsun vorüber ist, droht bei Trockenheit die nächste Gefahr: Feuer. Immer wieder kommt es zu Feuerausbrüchen, die sich in Windeseile durch die Bambushütten fressen.
Auch die mentale Gesundheit leidet. Die Hoffnung auf eine Rückkehr ist mit den Jahren geschwunden, angemessene Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten fehlen und viele Menschen kämpfen seit der brutalen Offensive 2017 mit Traumata. Ein Nährboden für Kriminalität, wie Vyas erzählt.
Immer wieder kommt es in den Camps zu Spannungen innerhalb der Gemeinschaft – vermehrt haben auch kriminelle Gangs ihre Finger im Spiel. «Die Sicherheit im Camp stellt eine grosse Herausforderung dar», erklärt Vyas.
Ausgelöst werden die Spannungen durch fehlende Aktivitäten, durch Streit um Infrastrukturen oder Arbeitsmöglichkeiten – und ganz allgemein durch fehlende Perspektiven.
Dies zieht weitere Probleme nach sich: Wie die UN schreibt, sei eine grosse Zahl Rohingya-Geflüchteter zu Drogenkonsumierenden geworden. Andere stiegen mangels begrenzter Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten ins Drogengeschäft ein. Gehandelt werde insbesondere mit Yaba, einer Droge in Pillenform bestehend aus Methamphetamin und Koffein, so die UN weiter. Das UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) führte in Cox's Bazar deshalb vor zwei Jahren das Pilotprojekt «Strong Families» (starke Familien) durch. In diesem Programm wurden die Familieninteraktionen gestärkt und das Bewusstsein für die Problematik der Drogen bei Eltern und deren Kindern geschärft.
Eine weitere Problematik, die in den Lagern häufig zu Spannungen führt, sind Kinderehen. Viele Eltern verheiraten ihre Töchter noch bevor sie die Pubertät erreichen. Diese Praxis basiert zwar auf religiöser Tradition, wird in den Flüchtlingscamps laut Studien allerdings vermehrt aus sozialen und wirtschaftlichen Aspekten praktiziert: Einerseits verhindern die Eltern, dass die Töchter unehelich schwanger werden (entweder durch Gewalt oder durch uneheliche Beziehungen), andererseits verringern sie die finanzielle Last im Haushalt und hoffen, dass die Tochter beim Ehemann besser versorgt wird.
Für die Mädchen gehen Kinderehen aber mit einer Reihe von Problemen einher: Sie sind sexueller und häuslicher Gewalt ausgesetzt und werden oft früh schwanger, ohne adäquaten Zugang zu Geburtseinrichtungen zu haben. Hilfsorganisationen wie Helvetas organisieren deshalb Kurse, wo sie die Rohingya über die Probleme von Kinderehen aufklären und Mädchen dabei unterstützen, «Nein» zu sagen.
Während viele Rohingya nun das siebte Jahr im Flüchtlingscamp verbringen, wird die Finanzierung mit der schwindenden öffentlichen Aufmerksamkeit jedes Jahr schwieriger. Wie Helvetas-Koordinator Vyas erklärt, wären für eine adäquate Finanzierung aller nötigen Projekte dieses Jahr 850 Millionen Dollar nötig gewesen. Zusammengekommen seien bis Mai 2024 lediglich 152 Millionen Dollar.
Dies zwingt die verschiedenen Organisationen vor Ort, bestimmte Projekte zu priorisieren und andere zu vernachlässigen. Das spüren auch die Menschen. Für die Hilfe, die sie erhalten, sind sie dankbar, doch die allgemeine Stimmung ist düster, so Vyas.
Neben allen Schwierigkeiten, die das Camp-Leben fordert, wiegt die mentale Last am schwersten. Die Menschen wollen in ihre Heimat zurückkehren, doch nach fast sieben Jahren beginnt die Hoffnung zu schwinden.
Diverse Hilfsorganisationen versuchen mit limitierten finanziellen Mitteln, die Menschen in Cox's Bazar zu unterstützen – das zeigt Wirkung. Doch es braucht mehr. Solange die Krise in der Vergessenheit ein Dasein fristet, wird im grössten Flüchtlingslager der Welt nicht gelebt, sondern überlebt.
Erschreckend, wie rigide die staatl. "Regeln/Gesetze" vor Ort sind. Es handelt sich um eine muslimische Volksgruppe, wo ist hier die große Weltgemeinschaft, die Umma des Islam? Hier vermisse ich den Einsatz zur Hilfe oder Aufnahme von Menschen. Ein Zurück in die Heimat scheint sehr unrealistisch, Cox Bazar ist eine tagtägliche Katastrophe.
Menschen ohne Perspektiven, ohne Bildung etc, sind leider tickende Zeitbomben.
Eine wirklich traurige und frustrierende Situation!
Der Westen (1. Welt) ist nicht für jedes existierende Leid verantwortlich.
Es fehlen weltweit Konzepte, um solchen Kriesen und Tragödien zu verhindern.