Eritrea. Kaum ein Land sorgt derzeit in der Schweiz für heftigere Emotionen. Das zeigen auch die Schlagzeilen in den Medien. Eritrea sei ein «Land des Grauens» schrieb die «NZZ am Sonntag» in ihrer Ausgabe vom 2. November 2014. «Eritrea ist besser als sein Ruf», konterte die «Weltwoche» nur vier Tage später. Die divergierenden Einschätzungen zeigen: Eritrea ist zwar das mit Abstand wichtigste Herkunftsland von Asylsuchenden in der Schweiz, aber auch eine Terra incognita.
3238 Personen aus dem afrikanischen Staat, den die wenigsten spontan auf der Karte finden dürften, reichten im zweiten Quartal 2015 ein Aufnahmegesuch in der Schweiz ein. Das entspricht fast der Hälfte aller Asylanträge. Neu ist diese Entwicklung nicht. In Europa ist nur Schweden eine noch beliebtere Destination für eritreische Flüchtlinge als die Schweiz. Dies erzeugt eine Art Herdentrieb. Eine immer grössere Exilgemeinde zieht immer mehr Menschen an.
Das sorgt für rote Köpfe vor allem im rechtsbürgerlichen Lager, angeheizt durch Berichte, wonach eritreische Asylbewerber für Ferien in die alte Heimat zurückreisen, in der sie angeblich verfolgt werden. FDP-Präsident Philipp Müller rief den Bund im letzten Herbst dazu auf, Rückführungen nach Eritrea zu prüfen. Der Zürcher SVP-Nationalrat Hans Fehr fordert in einer in der Sommersession eingereichten Motion, Asylgesuche von Personen aus Eritrea seien «grundsätzlich abzulehnen». Diese seien «in ihrer Heimat nicht an Leib und Leben bedroht».
Für die SVP sind Eritreer nicht politisch verfolgt, sondern Wirtschaftsflüchtlinge. Menschenrechtsorganisationen weisen dies zurück. Eritrea sei das Nordkorea Afrikas, ein abgeschotteter Unrechtsstaat. Die Organisation Reporter ohne Grenzen stuft Eritrea in Sachen Medienfreiheit auf den 180. und letzten Platz ein, hinter dem «echten» Nordkorea. Ein UNO-Bericht wirft der eritreischen Regierung «massive Verletzungen der Menschenrechte» vor, darunter willkürliche Hinrichtungen, Vergewaltigungen und systematische Folter.
Ist Eritrea eine Hölle auf Erden, oder ist alles halb so schlimm? Das kleine Land am Horn von Afrika mit rund sechs Millionen Einwohnern spaltete sich 1993 in einem blutigen Krieg von Äthiopien ab. Beigelegt wurden die Feindseligkeiten nie. Präsident Isaias Afewerki, der Eritrea seit der Unabhängigkeit diktatorisch regiert, hat dem Land einen Zustand der permanenten Mobilisierung verordnet. Der Militärdienst, der offiziell 18 Monate dauert, kann unbefristet verlängert werden. Flüchtlinge berichten von bis zu zehn Jahren.
Idris, ein 21-jähriger Eritreer, bezeichnete im Gespräch mit watson seine Zeit in der Armee als Hölle: «Wir haben kaum zu essen und zu trinken. Misshandlungen, Gewalt, Schläge: Das ist hier Alltag.» Deswegen gibt es auch keine Rückführungen, obwohl Dienstverweigerung seit der letzten Revision des Asylgesetzes explizit nicht mehr als Fluchtgrund akzeptiert wird. Die Schweiz ist damit nicht allein. «Bis heute führt kein europäisches Land abgewiesene Asylsuchende nach Eritrea zurück», hält das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf seiner Website fest.
Dies könnte sich ändern. In einigen Ländern wird über die Rückschaffung von eritreischen Flüchtlingen nachgedacht. Anlass ist ein im letzten Jahr veröffentlichter Bericht der dänischen Einwanderungsbehörden, wonach viele Eritreer Wirtschaftsflüchtlinge seien und kaum politisch verfolgt würden. Der Vizedirektor des SEM kam nach einer Eritrea-Reise im Januar zu einem ähnlichen Schluss. Das zeigt ein internes Papier, das die «Rundschau» publik machte: Die Aussagen des dänischen Berichtes seien richtig, heisst es darin.
Ein Sprecher des SEM betonte, es handle sich um einen internen Reisebericht. Es gebe keinen Grund zur Änderung der Aufnahmepraxis. «Eritrea ist kein sicheres Land», heisst es auf der SEM-Website. Andere Länder haben jedoch ihre Aufnahmeregeln verschärft, darunter Grossbritannien.
Die rechtsbürgerliche Regierung Norwegens will eine eigene Beobachtermission nach Eritrea schicken. «Wenn diese Beobachter uns melden, dass Rückkehrer nicht gefoltert und verfolgt werden, dann könnte Norwegen sehr rasch damit beginnen, Eritreer zurückzuschaffen», sagte Joran Kallmyr, Staatssekretär im norwegischen Justizministerium, der «Rundschau».
Der dänische Bericht enthält allerdings gravierende Mängel. Gaim Kibreab, Eritrea-Kenner und Professor an der Londoner South Bank University, zeigte sich nach der Veröffentlichung entsetzt. Er fühle sich betrogen: «Man hat meine Aussagen aus dem Zusammenhang gerissen.» Fakten seien komplett ignoriert und Informationen herausgepickt worden. Die Einwanderungsbehörden mussten Fehler eingestehen. Eritreer könnten «in vielen Fällen» noch immer mit Asyl in Dänemark rechnen.
Es ist nicht einfach, sich objektiv über die Lage vor Ort zu informieren. Diese Erfahrung musste SVP-Chefstratege Christoph Blocher im Frühjahr machen, als er nach einem Besuch in Äthopien nach Eritrea reisen wollte. Obwohl er als alt-Bundesrat einen Diplomatenpass besitzt, liess man ihn nicht hinein: «Da war kein Durchkommen. Die Grenze ist absolut dicht», sagte er zu 20 Minuten. Nach Nordkorea durfte Blocher nach seiner Abwahl 2007 nicht nur einreisen, die Regierung in Pjöngjang lud den ehemaligen Schweizer Justizminister sogar zu einem Gespräch ein.
Medienleuten geht es nicht besser, sie erhalten kaum eine Möglichkeit zu einem Besuch in Eritrea. Einem Filmteam der BBC gelang dies im Frühjahr nach monatelangen Verhandlungen mit der Regierung. Anlass war das eritreische Gesundheitswesen, das beachtliche Erfolge vorweisen kann, was selbst die UNO bestätigt. Die Kinder- und Müttersterblichkeit konnte in den letzten 30 Jahren massiv gesenkt werden, ebenso die Infektionsrate mit HIV und Malaria.
Die Bilder der BBC zeigen, dass in der Hauptstadt Asmara das Leben pulsiert. Man könne ihre Schönheit kaum übersehen, anerkennt die Autorin des Films. Doch hinter der Eleganz verberge sich Finsteres. Tatsächlich erlebte die Filmcrew Zustände wie in Nordkorea, permanent wurde sie von einem «Wachhund» der Regierung begleitet. «Und wenn es in Eritrea so gut läuft, warum verlassen dann nach UNO-Schätzungen bis zu 4000 Menschen pro Monat das Land?»
Yemane Ghebreab, Freund und Berater von Präsident Afewerki, räumte im BBC-Interview ein, dass junge Männer länger Militärdienst leisten müssen als offiziell verlangt, und das oft ohne Bezahlung. Er begründete dies mit dem anhaltenden Konflikt mit Äthiopien. «Wir brauchen unsere Leute, um uns zu verteidigen. Deshalb müssen sie für längere Zeit Dienst leisten, und das ist schwierig für sie.» Die Regierung wolle den Endlosdienst beenden, meinte Yemane.
Vermutlich haben die Machthaber eingesehen, dass sie den menschlichen Aderlass auf lange Sicht nicht verkraften können. Dem Land droht eine ganze Generation durch Flucht abhanden zu kommen. Von einer Demokratisierung aber will die Regierung nichts wissen. So lange Isaias Afewerki das Land mit eiserner Faust regiert, dürfte sich daran nichts ändern. «Wem Freiheit etwas bedeutet, der sollte die Unterdrückung in einem Land wie Eritrea anprangern und nicht verharmlosen», schrieb der NZZ-Redaktor und Afrika-Kenner David Signer – ehemals «Weltwoche» – im letzten Oktober.
Der 21-jährige Asylbewerber Idris und seine Freunde drückten es in diesem Frühjahr im Gespräch mit watson so aus: «Wir brauchen Demokratie in Eritrea! Und Menschenrechte! Es kann nicht sein, dass ein Diktator über 20 Jahre an der Macht ist und mit seinem Volk macht, was er will. So lange dies so bleibt, werden die Eritreer flüchten und den Sprung über das Mittelmeer wagen. Egal, wie viel Risiko damit verbunden ist.»
http://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/sondierungsreise-nach-eritrea?id=9308b490-a088-4479-a9bb-0bf8fff4be45
http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Machen-Fluechtlinge-Heimatferien/story/21576764
http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/So-fliesst-Schweizer-Steuergeld-zum-eritreischen-Diktator/story/11638942