Nach zähem Ringen haben sich die Europäische Union und die britische Regierung auf einen Vertrag geeinigt, der einen geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs am 29. März 2019 ermöglichen soll. Unterzeichnet werden soll das Dokument an einem Brexit-Sondergipfel in Brüssel am kommenden Sonntag. Ob der Deal in Kraft treten wird, bleibt aber fraglich.
Premierministerin Theresa May ist von zwei Seiten unter Beschuss: Die Brexit-Hardliner in ihrer konservativen Partei lehnen den «Scheidungsvertrag» vehement ab. Gleiches gilt für die nordirische Unionistenpartei DUP. Ohne deren Stimmen verfügt May über keine Mehrheit im Unterhaus. Das Schicksal des Brexit hängt somit weiter in der Schwebe. Worum geht es?
Der Brexit-Deal umfasst 585 Seiten. Wichtigster Punkt ist der vorläufige Verbleib Grossbritanniens in einer Zollunion mit der EU. Damit sollen Kontrollen an der irischen Grenze vermieden werden. Die endgültigen Modalitäten des britischen EU-Austritts sollen während einer bereits vereinbarten Übergangsfrist bis Ende 2020 ausgehandelt werden. Eine Verlängerung dieser Frist ist möglich.
Für viele Briten ist dieser Vertrag eine Kapitulation, doch die 27 verbleibenden EU-Mitgliedsländer standen während den Verhandlungen einmütig hinter Chefunterhändler Michel Barnier. Nun gibt es kritische Stimmen. Spanien will den Vertrag nur unterschreiben, wenn der Status von Gibraltar ausgeklammert wird. Beobachter glauben aber nicht, dass der Sondergipfel daran scheitern wird.
Für die so genannten Brexiteers hat Theresa May den Entscheid des Stimmvolks vom Juni 2016 verraten. Sie interpretierten das Ja zum Austritt als Auftakt zu einem goldenen Zeitalter, in dem das von den EU-«Fesseln» befreite Königreich mit der ganzen Welt Freihandelsverträge abschliessen kann. Bei einem Verbleib in der Zollunion ist dies jedoch nicht möglich, weil der Abbau von Zöllen ein wesentlicher Bestandteil solcher Verträge ist.
Die EU-Kritiker in der konservativen Partei fordern, dass Grossbritannien zumindest die Vereinbarung zu Nordirland einseitig aufkündigen kann. Das aber lehnt die EU ab. Die zuständigen Minister betonten bei einem Treffen am Montag in Brüssel, dass Nachverhandlungen nicht in Frage kommen. Solche hatte etwa der zurückgetretene Brexit-Minister Dominic Raab verlangt.
In seinem Fall dürfte verletzte Eitelkeit im Spiel sein, denn die Verhandlungen waren primär von May und ihren engsten Mitarbeitern geführt worden. In einem Interview mit der «Sunday Times» behauptete Raab im Stil eines Verschwörungstheoretikers, in der EU-Kommission seien «dunkle Mächte» am Werk. Er forderte einen Austritt notfalls ohne Abkommen, also einen «harten» Brexit.
Die protestantischen Unionisten wollen den Kuchen haben und ihn gleichzeitig essen, wie die Analogie zu unserem «Fünfer und Weggli» im Englischen lautet. Sie wollen keine Kontrollen an der Grenze zur Republik Irland und verteidigen gleichzeitig eisern die Einheit des Königreichs. Die DUP fürchtet, dass Nordirland am Ende allein in der Zollunion verbleiben wird.
Parteichefin Arlene Foster ist vehement gegen eine solche «Annexion» durch die EU. Als «Warnschuss» an die Adresse von May enthielt sich die DUP in der Budgetdebatte vom Montag im Unterhaus der Stimme und votierte bei einzelnen Anträgen sogar mit der oppositionellen Labour-Partei. Die nordirische Wirtschaft, darunter der DUP-nahe Bauernverband, unterstützt jedoch Mays Brexit-Deal.
Die Brexit-Hardliner streben ein Misstrauensvotum gegen die Premierministerin in der konservativen Unterhausfraktion an. Ein solches müssen 48 Abgeordnete beantragen. Den Anfang machte letzte Woche der exzentrische Brexiteer Jacob Rees-Mogg. Am Dienstag musste er am Rande einer Veranstaltung einräumen, dass er die nötigen Stimmen bislang nicht beisammen hat.
Dem Antrag müsste eine Mehrheit der 315 Tory-Abgeordneten zustimmen. Das schreckt die May-Gegner ab. Der für das Misstrauensvotum zuständige Parlamentarier Graham Brady glaubt nicht, dass die Hardliner Erfolg haben werden. Hauptgrund ist die Furcht vor einem «grauenvollen Chaos» nach einer Absetzung der Regierungschefin, vor dem Aussenminister Jeremy Hunt am Montag warnte.
Abschreckend auf die Tory-Rebellen wirkt auch, dass sie bei einem Misserfolg ein ganzes Jahr warten müssten, bis sie erneut einen «Putschversuch» lancieren könnten. Sie müssten auf einen «freiwilligen» Rücktritt der Premierministerin hoffen. Jacob Rees-Mogg warnte am Dienstag, wenn May jetzt nicht gestürzt werde, werde sie «die Konservativen in die nächsten Wahlen führen».
Der Brexit-Vertrag muss im Dezember vom Unterhaus gebilligt werde. Eine Mehrheit ist angesichts des Widerstands der Brexiteers und der DUP derzeit nicht in Sicht. Was bei einem Nein geschieht, ist völlig unklar. Vermutlich werden Grossbritannien und die EU alles unternehmen, um ein Chaos nach dem 29. März 2019 zu verhindern. Trotzdem ist ein Ja nicht ausgeschlossen.
Theresa May ist eine Überlebenskünstlerin. Sie könnte darauf spekulieren, dass ein Teil der Labour-Abgeordneten für den Vertrag stimmt. In deren Reihen hat sich zuletzt der Ärger über den sturen Pro-Brexit-Kurs des EU-skeptischen Parteichefs Jeremy Corbyn verstärkt. May könnte auch versuchen, die Torys mit der Furcht vor Neuwahlen und einem Labour-Sieg auf Linie zu bringen.
If there was a second in/out EU referendum, 47% of Britons think Remain would win and only 29% think Leave would win.
— YouGov (@YouGov) 20. November 2018
72% of Remain voters believe their side would prevail a second time around, while only 53% of Leave voters think the samehttps://t.co/W8buI8uM8e pic.twitter.com/QUi1RQUnSA
Möglich wäre auch eine zweite Brexit-Abstimmung. Die Premierministerin ist jedoch kategorisch dagegen, und auch Corbyn hält wenig davon. Unklar ist, ob ein anderes Ergebnis resultieren würde. In einer neuen Umfrage des Instituts Yougov geht eine Mehrheit davon aus, dass die Briten für einen Verbleib in der EU stimmen würden. Doch das muss nichts bedeuten.