Theresa May stand nach dem ersten Tag des EU-Gipfels in Brüssel mit leeren Händen da. Daran trägt die britische Premierministerin die Hauptschuld. Zur Enttäuschung der übrigen Staats- und Regierungschefs präsentierte sie am Mittwoch keine neuen Vorschläge für einen Vertrag über den Austritt ihres Landes, der am 29. März 2019 fällig wird, in weniger als einem halben Jahr.
In einer 15-minütigen Rede beim Abendessen legte May den Standpunkt ihrer Regierung dar. Dabei habe sie «inhaltlich nichts substanziell Neues» gesagt, bilanzierte EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani. Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite äusserte sich auf Twitter mit Ironie: Am Brexit-Dinner seien Verhandlungen nicht auf der Menükarte gewesen. «Nun erwarten wir ein full English breakfast beim nächsten Treffen.»
#Brexit dinner: negotiations not on the menu. Expecting full English breakfast at next meeting #EUCO
— Dalia Grybauskaitė (@Grybauskaite_LT) 17. Oktober 2018
Wann dieses Treffen stattfinden wird, ist unklar. Den geplanten Brexit-Sondergipfel im November hat die EU vorläufig abgesagt. Das gelte so lange, bis EU-Chefunterhändler Michel Barnier «entscheidende Fortschritte» in den Verhandlungen melde. Barnier selbst sagte, man brauche «viel mehr Zeit». Was sind die Gründe für die anhaltende Blockade beim Brexit?
Für einen erfolgreichen Deal braucht man starke Verhandlungspartner. Theresa May aber ist eine schwache Regierungschefin. Seit der von ihr letztes Jahr unmotiviert angesetzten Parlamentswahl verfügt ihre Konservative Partei über keine eigene Mehrheit im Unterhaus. Sie ist auf die Unterstützung der nordirischen Protestanten-Partei DUP angewiesen.
May ist von zwei Seiten unter Druck: Einmal von den Hardlinern in der eigenen Partei um den früheren Aussenminister Boris Johnson. Die so genannten «Brexiteers» wollen einen Austritt um jeden Preis, wenn nötig ohne Abkommen. Auf der anderen Seite stehen jene Kreise, die eine möglichst starke Anbindung des Königreichs an die EU wollen. Oder eine zweite Abstimmung. Laut den neusten Umfragen würde eine Mehrheit dieses Mal für den Verbleib in der EU stimmen.
Nachdem die Briten mehr als zwei Jahre über den Brexit gestritten hatten, präsentierte Theresa May im Juli endlich ihr Weissbuch für den Austritt, den so genannten Chequers-Plan. Benannt ist er nach dem offiziellen Landsitz des britischen Premierministers. Er sieht eine Art erweiterte Freihandelszone für Güter vor, aber ohne Dienstleistungen und ohne Personenfreizügigkeit.
Das Problem: Ausser May und ihren Vertrauten findet überspitzt gesagt niemand den Chequers-Plan gut. Für die Brexit-Hardliner geht er zu weit. Johnson und der frühere Brexit-Minister David Davis traten nach seiner Präsentation aus der Regierung zurück. Auch die EU kann wenig damit anfangen. Sie fürchtet, der Plan werde den gemeinsamen Binnenmarkt untergraben.
Sie ist der grösste Brexit-Stolperstein. Seit dem Karfreitagsabkommen von 1998 ist die einst schwer bewachte innerirische Grenze immer durchlässiger geworden. Heute existiert sie physisch praktisch nicht mehr. Eine Rückkehr zu Zoll- und Warenkontrollen will niemand, auch nicht die stramm royalistische DUP, wie Parteichefin Arlene Foster letzte Woche in Brüssel betonte.
Gleichzeitig wehrte sich Foster vehement gegen eine Sonderregelung, bei der Nordirland zumindest vorläufig in der Zollunion und im Binnenmarkt verbleibt, womit eine Zollgrenze zum Rest des Königreichs entstehen würde. Sie drohte May für diesen Fall mit dem Entzug ihrer Unterstützung im Parlament. Eine Lösung für den Backstop, wie das Irland-Problem genannt wird, ist nicht in Sicht.
Die EU und Grossbritannien haben sich auf eine Übergangsfrist bis Ende 2020 geeinigt, in der das Vereinigte Königreich faktisch ein Teil der Europäischen Union bleiben würde. Damit sie in Kraft treten kann, muss jedoch ein Austrittsvertrag stehen. Chefunterhändler Michel Barnier hat am Dienstag als Zugeständnis an Grossbritannien eine Verlängerung der Frist um ein Jahr angeboten.
Theresa May soll sich am EU-Gipfel dafür offen gezeigt haben. Allerdings muss eine Verlängerung vom Unterhaus gebilligt werden, und dort droht eine Rebellion der «Brexiteers». Sie fürchten ein Szenario, das Boris Johnson als «Toilettenpapier-Brexit» bezeichnet hat. Einen weichen und endlos langen EU-Austritt, der faktisch gar keiner wäre.
Trotz der Uneinigkeit erklärten die meisten Staats- und Regierungschefs, darunter die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, ein Abkommen sei immer noch möglich. Einen chaotischen Brexit will niemand, und die EU hat Erfahrung damit, in Nachtsitzungen Kompromisse rauszuwürgen, die am Ende gar nicht schlecht funktionieren.
Gut möglich, dass man sich bis Ende Jahr auf ein rudimentäres Abkommen einigt, damit die Übergangsfrist in Kraft treten und danach weiterverhandelt werden kann. Ob Theresa May dies politisch überleben würde, ist fraglich. Die Hardliner sägen kräftig an ihrem Stuhl. In der Pole Position für die Nachfolge befindet sich derzeit der frühere Brexit-Minister David Davis.
Es könnte somit noch einige Zeit dauern, bis feststeht, wie der Austritt vollzogen und das Verhältnis Grossbritanniens zur EU künftig aussehen wird. Für die Schweiz sind das schlechte Nachrichten. Noch immer hoffen vorab rechtsbürgerliche Kreise, der Brexit könnte zu einer Art Blaupause für das Rahmenabkommen mit der EU werden. Dies scheint zunehmend illusorisch.