Nach der Bundestagswahl steht Deutschland vor einer Premiere: Erstmals dürfte eine Regierung aus drei Parteien gebildet werden. Theoretisch wäre auch eine Neuauflage der grossen Koalition aus SPD und CDU/CSU möglich, doch dass die machtbewusste Union sich mit der Rolle des Juniorpartners abfinden würde, ist mehr als unwahrscheinlich.
Aus diesem Grund kommen auch andere Bündnisse wie Kenia (Rot-Schwarz-Grün) oder Deutschland (Rot-Schwarz-Gelb) kaum in Frage. Es dürfte auf eine Ampel mit SPD, Grünen und FDP unter Führung von Wahlsieger Olaf Scholz oder eine Jamaika-Koalition (Union, Grüne, FDP) mit einem Bundeskanzler Armin Laschet hinauslaufen.
Das bedeutet: Ohne Grüne und FDP wird es nicht gehen. Das gibt diesen Parteien eine beträchtliche Verhandlungsmacht, enthält aber auch ein grosses Streitpotenzial. Deshalb wollen Grüne und Liberale in einem ersten Schritt sondieren, wo die Gemeinsamkeiten liegen und mit welcher der beiden grossen Parteien sie sich verbünden wollen.
Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter kündigte am Montag Gespräche in einem «sehr kleinen Kreis» an. Dabei geht es um die Vermeidung von Indiskretionen, die die letztlich geplatzten Jamaika-Verhandlungen vor vier Jahren beeinträchtigt hatten. Beide Parteien verbindet der Wille zur Erneuerung, aber es gibt auch gewichtige Differenzen.
Die Grünen haben vor allem eine «rote Linie»: Sie fordern einen effizienten Klimaschutz mit Investitionen von 50 Milliarden Euro pro Jahr in die «sozial-ökologische Transformation». Das ist kaum im Sinne der FDP. Sie will den EU-Emissionshandel ausbauen, was nach Ansicht der Grünen zu höheren Preisen und «sozialen Verwerfungen» führen würde.
Weiter setzt die FDP statt auf staatliche Subventionen auf privatwirtschaftliches Engagement. Ausserdem verlangt sie schnellere Bewilligungsverfahren, um etwa den ins Stocken geratenen Ökostrom-Ausbau anzukurbeln. Unüberwindbar scheinen die Differenzen zwischen den beiden Parteien bei diesem Kernthema aber nicht zu sein.
Parteichef Christian Lindner hat es im Wahlkampf betont: Für höhere Steuern sind die Liberalen nicht zu haben, und schon gar nicht für eine Vermögenssteuer. Eine weitere «rote Linie» ist die Aufweichung der Schuldenbremse. Grüne und SPD hingegen wollen kleinere und mittlere Einkommen entlasten und dafür Reiche und Grosskonzerne stärker besteuern.
Es wird nicht einfach sein, diese Differenzen zu überwinden, denn beide Juniorpartner erheben Anspruch auf das Finanzministerium: die FDP mit Lindner, die Grünen mit Robert Habeck. Finden könnten sich die Parteien dafür beim Stopfen von Steuerschlupflöchern. Gleiches gilt etwa für die Abschaffung klimaschädlicher Subventionen.
Das Hauptinteresse der Union gilt dem Machterhalt. Inhaltlich war sie stets flexibel. Das zeigte sich in der «Elefantenrunde», als Armin Laschet den Grünen sehr deutliche Avancen machte und eine «Zukunftskoalition» vorschlug. Das könnte ihm Ärger einbringen mit den Konservativen um Friedrich Merz. Erste kritische Stimmen gibt es bereits.
Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer sagte am Montag, er sehe keinen Regierungsauftrag für seine Partei. Auch für CSU-Chef Markus Söder, dessen Partei in Bayern einen historischen Tiefstand erreichte, kann die Union keinen zwingenden Anspruch auf die Regierungsführung erheben. Sie könne ein Angebot für Gespräche machen.
Aus Platz 2 leitet sich kein Anspruch auf eine Regierungsbildung ab. Wir machen FDP und Grünen ein Angebot, aber nicht um jeden Preis. Die Union darf in Verhandlungen nicht entkernt werden. Die CSU steht ein für Rentengerechtigkeit, den ländlichen Raum und gegen Steuererhöhungen.
— Markus Söder (@Markus_Soeder) September 27, 2021
CDU-Chef Laschet betonte an einer Medienkonferenz seinen Willen, eine Regierung zu bilden. Für den als bizarr empfundenen Auftritt gab es Kritik und erste Rücktrittsforderungen aus den eigenen Reihen. Laschets Demontage dürfte sich in den nächsten Tagen fortsetzen. Es sind schlechte Voraussetzungen für ein Jamaika-Bündnis.
Ganz anders war die Stimmung im Willy-Brandt-Haus in Berlin. Die SPD konnte am Montag einen Dreifachsieg feiern. Neben Olaf Scholz gewannen Franziska Giffey in Berlin und Manuela Schwesig in Mecklenburg-Vorpommern. An einer Medienkonferenz bekräftige Scholz, er wolle mit Grünen und FDP eine «sozial-ökologisch-liberale Koalition» bilden.
Dabei geniesst der Hamburger doppelt Rückenwind: Eine klare Mehrheit der Deutschen will ihn laut Nachwahlbefragungen als neuen Bundeskanzler. Und er kann die SPD-Linken auf Distanz halten, denn ihr Traum von einer rein linken Regierung ist geplatzt. Rot-rot-grün hat im Bundestag eine Mehrheit knapp verpasst, also spricht praktisch alles für die Ampel.
Olaf Scholz müsste vor allem der FDP entgegenkommen. Das dürfte ihm als pragmatischem Sozialdemokraten nicht allzu schwer fallen, doch eine «rote Linie» hat auch er im Wahlkampf formuliert: Scholz will den Mindestlohn von 9.60 auf 12 Euro pro Stunde anheben. Die FDP will davon nichts wissen und diese Frage in den Tarifverträgen regeln.