Die Bundesrepublik Deutschland hat einige denkwürdige Bundestagswahlen erlebt. Der Jahrgang 2021 gehört nicht dazu. So richtig zufrieden konnte am Ende keine der grossen Parteien sein, auch nicht die SPD, die beim Wähleranteil vorne liegt und gegenüber 2017 klar zugelegt hat. Am Ende konnte sie sich nur knapp gegen CDU und CSU durchsetzen.
Die Union konnte ihre Basis für einen Schlussspurt mobilisieren und erzielte dennoch das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte. Das lag auch, aber nicht nur, am schwachen Spitzenkandidaten Armin Laschet. Die Grünen wiederum sind so stark wie nie, aber es wäre noch mehr möglich gewesen, wenn sie sich bei der Kandidatenkür nicht verzockt hätten.
Nun steht eine schwierige Regierungsbildung bevor. Sie wird hoffentlich nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen wie nach der letzten Wahl. Damals dauerte es sechs Monate, auch weil die eigentlich oppositionswillige SPD von «ihrem» Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier regelrecht in eine neue «grosse Koalition» geprügelt werden musste.
Auf eine erneute Auflage dieses Bündnisses hat niemand Lust. Es wäre ein fatales Signal, denn nach 16 Jahren Angela Merkel darf es ein «Weiter so» nicht geben.
Deutschland leidet unter einem massiven Reformstau. Zu viel ist unter der nicht mehr so grossen Koalition liegen geblieben: Die Digitalisierung ist ein Trauerspiel, die Energiewende eine Unvollendete mit diversen Fragezeichen. Die Infrastruktur ist marode, vor allem im Westen, der für den «Aufbau Ost» lange vernachlässigt wurde.
«Die nächste Bundesregierung muss das Land grundlegend reformieren, der Wohlstand ist in Gefahr», warnt der «Spiegel» in seiner aktuellen Titelstory. Das ist auch für die Schweiz von Bedeutung. Wir arbeiten uns gerne am «grossen Kanton» ab, aber kein anderes Land hat für uns wirtschaftlich und politisch eine annähernd so grosse Bedeutung wie Deutschland.
Die gute Nachricht: Nach wie vor ist die Bundesrepublik ein Land mit hoher Innovationskraft und Leistungsbereitschaft. Sie hat in der Vergangenheit zwei gewaltige Herausforderungen gemeistert: den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und die Wiedervereinigung mit der bankrotten DDR. Und sie ist fähig, auch den heutigen Reformstau aufzulösen.
Ein gutes Beispiel ist die Autoindustrie, das «Paradepferd» der deutschen Wirtschaft. Sie verschlief die Elektromobilität und setzte viel zu lange auf den «sauberen» Diesel – wobei sie mit Tricksereien nachhalf, die ihr einen heftigen Imageschaden bescherten. Nun aber ist die Aufholjagd im Gange, und man traut es den Deutschen zu, dass sie gelingen wird.
Welche Regierung könnte die nötigen Reformimpulse liefern? Diverse Konstellationen sind möglich, aber realistisch sind nur zwei Dreier-Bündnisse: Eine Jamaika-Koalition aus Union, Grünen und FDP sowie die Ampel mit SPD, Grünen und FDP.
Es grundsätzlich positiv, dass Grüne und Liberale wahrscheinlich in der künftigen Regierung vertreten sein werden. Es sind die einzigen Parteien im Bundestag, die programmatisch für Aufbruch und Erneuerung stehen. Es erstaunt denn auch wenig, dass sie bei den jungen Wählerinnen und Wählern an der Spitze liegen. Wer aber soll den Lead übernehmen?
CDU und CSU sind es nicht, auch wenn der glücklose Armin Laschet sich nun an die Macht klammert. Die Ironie liegt darin, dass die scheidende Kanzlerin Angela Merkel mit ihrer Mitte-Politik die SPD klein halten wollte, am Ende aber die eigene Partei verzwergt hat. Die Union ist personell und inhaltlich entleert, sie sollte sich in der Opposition erneuern.
Stimmverteilung in den verschiedenen Altersgruppen: Laut Infratest dimap waren Union und SPD insbesondere bei älteren Wählern erfolgreich. Unter 25-Jährige wählten dagegen vor allem FDP und Grüne. #btw21 https://t.co/cgk7tkIBSk pic.twitter.com/tWQAFUUk50
— tagesschau (@tagesschau) September 26, 2021
Bleibt die SPD. Sie mag davon profitiert haben, dass die Konkurrenz bei der Wahl des Spitzenpersonals aufs falsche Pferd gesetzt hat. Und Olaf Scholz, den sie aus purer Verzweiflung nominierte, im Wahlkampf so gut «merkeln» konnte und sich keinen groben Schnitzer erlaubte. Auf den ersten Blick steht der Hamburger nicht für eine visionäre Politik.
Trotzdem traut man es einem Bundeskanzler Scholz zu, dass er das Bündnis der ungleichen Partner ausbalancieren und die Weichen richtig stellen kann. Ärger droht ihm aus der eigenen Partei, die sich nach einer linken Politik sehnt. Damit mussten sich schon sein Vorbild Helmut Schmidt und Gerhard Schröder, der «Genosse der Bosse», herumschlagen.
Am Ende reihte sich die SPD trotzdem brav hinter ihren Kanzlern ein. Das wird dieses Mal nicht anders sein, denn die Sozialdemokraten wissen genau, wem sie den unerwarteten Erfolg bei der Bundestagswahl zu verdanken haben: Nicht ihren beiden Vorsitzenden, die kaum jemand kennt, auch nicht Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert – sondern Olaf Scholz.
Ähnliche Basisprobleme gibt es bei den Grünen und in der FDP, wo es vielen vor einem Bündnis mit zwei «linken» Parteien graut. Parteichef Christian Lindner aber hat die Fühler ausgestreckt. Er kann sich nicht wie 2017 vor der Regierungsbeteiligung drücken. Schon gar nicht, wenn man sie ihm mit seinem Wunschressort «versüsst», dem Finanzministerium.
In einer Ampel kann es zu Reibungsverlusten kommen. Im besten Fall aber befruchten sich die Partner gegenseitig, entsteht eine Regierung, die sozial, ökologisch, innovativ und wirtschaftsfreundlich zugleich ist. Es sieht aus wie die Quadratur des Kreises, aber den Deutschen traut man zu, dass es gelingen wird. Darum: Freie Fahrt für die Ampel!
Und ein Kanzler Laschet geht gar nicht. Das wäre zwar gut für das Comedy Gold, aber schlussendlich wäre es wie bei Trump eine verlorene Legislatur. In einer Zeit und Weltlage wo man sich Spasspolitiker nicht mehr gönnen sollte. Ausserdem war die CDU eindeutig der Wahlverlierer.