Gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit und Gewalt haben gut 65'000 Menschen am Montag bei einem Konzert in Chemnitz protestiert. Die Veranstaltung war eine Reaktion auf den gewaltsamen Tod eines 35-jährigen Deutschen vor gut einer Woche sowie die folgende Vereinnahmung der Bluttat durch rechtspopulistische Kräfte wie Pro Chemnitz beziehungsweise AfD und Pegida.
Aktuelle geschätzte Besucherzahl: 65.000!!!#wirsindmehr #c0309 #chemnitz@PolizeiSachsen@Kraftklub @marteria @CASPERxOFFICIAL @dietotenhosen @K_I_Z_ @sxtnura
— Stadt Chemnitz (@Stadt_Chemnitz) 3. September 2018
Die Infrastruktur von Chemnitz war angesichts der vielen Konzertbesucher teilweise arg überlastet. Nach Polizeiangaben kam das Mobilfunknetz im Bereich der Veranstaltung zum Erliegen. Der öffentliche Nahverkehr im Stadtzentrum wurde zeitweise eingestellt.
Das Mobilfunknetz im Bereich der Veranstaltung #wirsindmehr in #Chemnitz ist zum Teil überlastet. Bitte stellen Sie sich auf die Situation ein. #c0309
— Polizei Sachsen (@PolizeiSachsen) 3. September 2018
Am Rande des Konzertes wurden Spendengelder gesammelt. Nach Angaben der Organisatoren soll die Hälfte des Geldes der Familie des Getöteten zugute kommen, die andere Hälfte ist für antifaschistische, antirassistische und zivilgesellschaftliche Initiativen in Sachsen vorgesehen.
Die Lage rund um das Konzert blieb störungsfrei, wie eine Polizeisprecherin sagte. Die Polizei in Chemnitz wurde nach den Angaben aus sechs Bundesländern und der Bundespolizei unterstützt. Eine genaue Anzahl der eingesetzten Beamten nannte sie nicht.
Während das Konzert läuft, kommt es an der Gedenkstätte für Daniel H. zu Streitereien. #Chemnitz #c0309 #wirsindmehr pic.twitter.com/W58nng1njE
— Felix Huesmann (@felixhuesmann) 3. September 2018
Allerdings spielten sich am späten Abend am Gedenkort des getöteten Daniel H. skurrile Szenen ab. Neben den trauernden Angehörigen und Freunden des Opfers traten vereinzelt Rechtsradikale in Erscheinung. Darauf begaben sich einige Konzertbesucher zur Gedenkstätte. Die Polizei konnte ein Aufeinandertreffen der beiden Gruppierungen nicht immer verhindern. Zudem störten die Demonstranten mit ihren Parolen die Trauernden.
Am Gedenkort für den getöteten Daniel H. spielen sich in den letzten Stunden skurrile Szenen ab. So ist es dazu gekommen. #Chemnitz #c0309 #wirsindmehr pic.twitter.com/LNO800rgGl
— Felix Huesmann (@felixhuesmann) 3. September 2018
Später kam es noch zu einer Sitzdemonstration, welche teilweise durch die Beamten aufgelöst werden konnte.
Rund um den Gedenkort für Daniel H. stehen Antifaschisten und rufen Parolen. In der Mitte stehen ein paar augenscheinliche Rechte - aber teilweise auch trauernde Freunde des Getöteten. Keine sehr glückliche Situation. #Chemnitz #c0309 #wirsindmehr pic.twitter.com/S5ZPrJe2ah
— Felix Huesmann (@felixhuesmann) 3. September 2018
Vor dem Konzert hatte die Stadt Chemnitz zwei Kundgebungen gegen das Konzert untersagt. Die fremden- und muslimfeindliche Thügida wollte sich in unmittelbarer Nähe zum Veranstaltungsgelände unter dem Motto «Gegen antideutsche Kommerzhetze» versammeln.
Kundgebung gegen antideutsche Kommerzhetze am Montag. pic.twitter.com/cbpIT73pY4
— greizwaehltkoeckert (@greizwaehlt) 1. September 2018
Begründet wurde die Absage damit, dass die Veranstaltungsfläche bereits belegt sei. Mit dem gleichen Argument wurde auch eine Kundgebung von Pro Chemnitz erneut vor dem Karl-Marx-Monument untersagt.
Bands wie die Toten Hosen, Kraftklub, Materia oder Feine Sahne Fischfilet spielten unter dem Motto «#wirsindmehr» gratis in der drittgrössten sächsischen Stadt. Mit dem Konzert wollten die beteiligten Musiker ein lautes Zeichen gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit setzen.
«Wir sind nicht naiv. Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass man ein Konzert macht und dann ist die Welt gerettet», sagte Kraftklub-Sänger Felix Brummer, der aus Chemnitz stammt, vor Beginn des Open Airs. «Aber manchmal ist es wichtig, zu zeigen, dass man nicht allein ist.»
Der Rapper Marteria fühlte sich durch die Vorkommnisse in Chemnitz an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen erinnert. Er habe damals 1992 in Rostock gewohnt und jahrelang damit zu kämpfen gehabt, dass Rostock als «Nazi-Stadt» abgestempelt gewesen sei. «Mir geht es darum, dass die Leute, die aus Sachsen, aus Chemnitz sind, auch sagen können: ‹Hey, ich bin aus Chemnitz›, ohne dass gesagt wird: ‹Ah, musst du also ein Nazi sein›».
Laut Tote-Hosen-Sänger Campino sind die beteiligten Bands heftigen Anfeindungen im Internet ausgesetzt. Auf den Facebook-Seiten gebe es «immense Shitstorms» gegen die Musiker, sagte Campino in Chemnitz. «Man muss schon ein dickes Fell haben um zu sagen: Ich gehe trotzdem nach vorne.»
Zeitgleich zu dem Konzert im deutschen Chemnitz traten am Montagabend auch in Zürich fünf Bands auf, die sich mit dem Widerstand in Deutschland solidarisieren wollten. Dies teilte die JUSO Kanton Zürich am späten Montag in einem Communiqué mit.
wir sind auch in der schweiz mehr. #wirsindmehr merci @JUSOzh pic.twitter.com/aptseiolqo
— lorena stocker (@lorenastocker) 1. September 2018
Demnach versammelten sich an dem Zürcher Konzert rund 1500 Personen am Bürkliplatz, um etwa ein Zeichen gegen Faschismus, Rassismus und Sexismus zu setzen. Es fand von 19.00 bis 21.30 Uhr statt und sei von Jonas Kampus sowie Jonathan Daum initiiert worden.
Unglaublich friedliche Veranstaltung! ❤️
— Paula Deme 🎗 (@paula_deme) 3. September 2018
Danke, Zürich! #Solidarität #FckNzs #Chemnitz #Wirsindmehr #PaulaonTour #Zürich pic.twitter.com/oyF4cY4zFc
Gemäss dem untenstehenden Tweet kam es auch in anderen Städten im deutschsprachigen Raum zum Solidaritätskundgebungen.
Hab für heute bisher gefunden:#Chemnitz 65.000#Kiel 4.000#Zürich 3.000#Duisburg 1.500#Dresden 600#München 300
— 🦇Shantay LaVey🦇 (@lavey_shantay) 3. September 2018
Bermerkenswert in den letzten Tagen auch:#Hamburg 16.000#Berlin 5.000
Korrektur/Ergänzung erwünscht.
❤️ #wirsindmehr #nonazis #noafd #nopegida ❤️
Im Zusammenhang mit den Protesten und Demonstrationen in Chemnitz gibt es bisher 51 Ermittlungsverfahren. In den meisten Fällen sind die Tatverdächtigen vom 26. und 27. August unbekannt, wie ein Sprecher der Generalstaatsanwaltschaft Dresden mitteilte.
Es gehe um das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen wie den Hitlergruss, Körperverletzung und versuchte gefährliche Körperverletzung, Verdacht des Landfriedensbruchs, Beleidigung sowie gefährlichen Eingriffs in den Luftverkehr durch Blendung der Piloten von Polizeihelikoptern mit Laser-Pointern. (sda/dpa/vom)