Sechs Tage ist Leonora nun schon verschwunden. Wortlos ist sie aus dem Haus gegangen, damals, an diesem Freitag Anfang März 2015. Wochenende bei Mama, sagte sie zu Maik Messing, ihrem Papa. Doch das stimmte nicht. Leo, wie sie ihr Vater nennt, ist an diesem Abend in die Türkei geflogen und von dort im Kleinbus weiter nach Syrien. Fort von ihrer Heimat, dieser Idylle zwischen Südharz und Kyffhäusergebirge. Von diesem Stück heile Welt.
Es ist Mitte März 2015, als auf dem Handy von Maik Messing eine WhatsApp-Nachricht eingeht. Gesendet von einer unbekannten Nummer, mit einer Vorwahl, die Maik Messing nicht kennt. «Hallo, mein Name ist Nihad Abu Yasi», liest Maik Messing. «Ihrer Tochter geht es gut. Sie ist angekommen in Dawlatul Khilafa.» In einer weiteren Nachricht heisst es: «Ich werde mich so lange ich lebe um sie kümmern, bi idhnillah (alles Lob gebührt Allah).»
Maik Messing versteht damals noch nicht, dass Dawlatul Khilafa so viel heisst wie Kalifatstaat, Gebiet des IS in Syrien. Und er weiss noch nicht, dass der Mann, der sich Nihad nennt, früher mal ein Handwerker aus Sachsen-Anhalt mit Namen Martin Lemke war, inzwischen ein Konvertit, radikaler Islamist, der – vermutlich – im Namen seiner Religion tötet. «Vom Schweisser zum Schlächter», wird mal eine Zeitung über den heute 28-Jährigen schreiben. Lemke ist damals ein hohes Tier beim IS, Mitglied der Sittenpolizei, eine Art islamistische Gestapo. Abu Yasir al-Almani ist jetzt Maik Messings Schwiegersohn. Er hat Leo im Kalifat zu seiner dritten Ehefrau gemacht.
In den nächsten Jahren wird seine Leo, noch ein Teenager, mit dem IS-Kämpfer zwei Kinder zeugen. Und sie wird die Hölle auf Erden durchleben. Zeugin sein von Gräueltaten, vielleicht von Steinigungen, vielleicht von Enthauptungen. Das Mädchen aus der Provinz wird vor den Bomben der internationalen Koalition gegen den IS flüchten, sie wird Todesängste ausstehen.
Wir treffen Maik Messing kurz vor Weihnachten in Berga, Südharz, mehr als drei Stunden Autofahrt von Berlin entfernt. Der 47-Jährige bittet zum Gespräch in das Besprechungszimmer seiner Grossbäckerei, die am Rande der 1600-Gemeinde in einem Industriegebiet liegt. Auf dem Tisch ein Tablett, gefüllt mit Christstollen, Keksen, Weihnachtsgebäck. «Greifen Sie zu», sagt Messing und lacht. Der Bäckermeister wird in den nächsten zwei Stunden, die dieses Gespräch dauern wird, öfter lachen. Manchmal ist dieses Lachen ein Bitteres, weil es die einzige Möglichkeit für Maik Messing ist, die Gedanken an den Irrsinn der letzten fast fünf Jahre zu ertragen.
Manchmal lacht Maik Messing auch deshalb, weil der Mann noch immer einen Schalk in sich trägt, weil er eigentlich eine Frohnatur ist, von allen geschätzt im Dorf. Und nur deshalb heute ernsthafter ist, weil er seine Tochter Leo an die Terrormiliz IS verloren hat. Und weil er die letzten Jahre selbst eine Tortur durchgemacht hat, die ihn an einen Tisch mit Mittelsmännern der Terrororganisation Al-Kaida gebracht hat. Und weil er für eine Weile im Glauben, seine Leo sei in Syrien gestorben, weiter funktionieren musste.
Leonora Messing ist ein ganz normaler Teenager. Beliebt bei Klassenkameraden, die Lehrer finden nur gute Worte über sie. Sie liest Bewohnern im Altersheim die Zeitung vor. Auf ihrem Youtube-Kanal gibt sie Beauty-Tipps für Gleichaltrige. Beim Fasching tanzt sie als Funkenmariechen im knappen Rock. Doch Leo führt ein Doppelleben. Sie kennt Teenager aus der Region, die vom Islam schwärmen. Eine von ihnen betreibt einen Shop für Muslim-Bedarf, verkauft Niqab, Kopftuch, Koran. Leo ist fasziniert von dieser anderen Welt, von dieser geheimnisvollen Religion, von der ihr neues Umfeld schwärmt.
Eine der jungen Frauen ist mit Martin Lemke zusammen, so lernt sie den späteren Gotteskrieger kennen. Als Maik Messing im Februar 2015, knapp einen Monat vor der Ausreise von Leo, zum zweiten Mal heiratet, hält seine Tochter den Schein weiterhin hoch. Sie ist dabei im Restaurant mit der Familie, bestellt Pizza mit Salami. Zwei Wochen vor dem Kalifat tanzt sie im kurzen Rock beim Fasching. «Elhamdulillah (Gott sei Dank), dass ich dich habe. Wirklich. Ich habe ja keinen Streit mit meinen Eltern. (...) Aber ich will anders leben! Ich muss mich total verstellen. Ich führe voll das Doppelleben», schreibt Leo per WhatsApp im März 2015 an ihre beste Freundin in Sachsen-Anhalt.
Wenn Maik Messing erzählt, schaltet er das Handy aus. «Sonst hören die wieder mit», sagt er. Sie, die Beamten des Bundeskriminalamtes BKA. Es ist nämlich unklar, was seine Tochter alles gemacht hat in Syrien. Hat sie sich am Terror beteiligt? Hat sie mit ihrem Mann, der heute in einem kurdischen Gefängnis auf seinen Prozess wartet und seine Rolle im IS herunterspielt, Leute verraten? Leo sagt nein, und Maik Messing möchte seiner Tochter glauben. «Aber es ist schwer, ihr wieder zu Einhundertprozent vertrauen zu können.»
Leo ist heute mit ihren Kindern, 1 und 2 Jahre alt, im Flüchtlingslager Al-Haul im Kurdengebiet, Nordsyrien. Sie sitzt fest mit 70'000 Flüchtlingen. Im Januar 2019 wurde sie verhaftet, die letzten versprengten Einheiten des islamischen Staates ergaben sich. Über all die Jahre hat Maik Messing stets Kontakt zu seiner Tochter gehalten. Sie haben sich per WhatsApp ausgetauscht. Messing hat Leonora keine Vorwürfe gemacht, sondern banale Fragen gestellt. Habt ihr Klopapier? Wie ist das Wetter? Wo könnt ihr kochen? Vielleicht hätte sich Leo abgewandt, hätte Maik Messing Vorwürfe formuliert.
Einmal hat Maik Messing seiner Tochter ein Foto eines Wiener Schnitzels gesendet, das er sich gebraten hat. Schnitzel, früher eine von Leos Lieblingsspeisen. Jetzt schreibt sie «Igitt!» und setzt dahinter ein Smiley. Leo sendet einmal eine Sprachnachricht, Lemkes Frauen machen verboten Party in Rakka. «Atemlos, durch die Nacht» von Helene Fischer, tönt es, und Leo kichert wie ein fröhlicher Teenager, der nicht versteht, wie ernst die Lage ist.
Der Islamwissenschaftler und Journalist Volkmar Kabisch, der für Reportagen schon viele Male in die Kriegsgebiete in Syrien und im Irak gereist ist, hat Maik Messing über all die Jahre begleitet. Er war im heute zerbombten Haus von Leo in Rakka, hat Leo im Flüchtlingslager besucht. Sie bereut ihr Tun, aber sie ist noch immer das naive Mädchen von damals. Vielleicht lässt sie es nicht zu, ihr eigenes Tun zu reflektieren. Weil sie fokussiert sein muss auf die Gegenwart. Das Leben im Lager ist gefährlich. Sie sitzt dort fest mit alten IS-Kämpfern, es gelten die Gesetze der Scharia. Kabisch hat über die Geschichte in der ARD einen Dokumentarfilm veröffentlicht, und in diesem Herbst haben der Journalist und Maik Messing ein Buch über die Reise ins Kalifat herausgegeben, das wie in einem Krimi erzählt, wie sich eine junge Frau blenden liess und nicht mehr zurück findet in ihr altes Leben.
Messing möchte seine Tochter zurückholen nach Deutschland. Doch die Bundesregierung hat kein Interesse daran, ehemalige IS-Kämpfer ins Land zu lassen. Die Gotteskrieger sind eine Gefahr für die innere Sicherheit. Vielleicht auch Leo? Maik Messing glaubt seiner Tochter, die beteuert, dass sie sich an keinen Verbrechen beteiligt hat. Wenige Monate nachdem sie in Syrien war, flehte sie den Vater an, er möge sie aus dem Kalifat zurückholen. Die Realität hatte Leo, heute 20 Jahre jung, bald eingeholt, ihre Schwärmerei für Martin Lemke, dieses Grossmaul, der auf Fotos mit Kalaschnikow und schwarzer Kampfmontur posierte und heute erklärt, er habe doch nichts getan, erlosch nach wenigen Wochen.
Es wird schwierig sein, Leo, die einstige «Terror-Braut», wie eine Lokalzeitung mal titelte, zu integrieren in dieser konservativen Gegend. Muslima ist sie noch immer, doch wie radikal ist ihr Glaube? Messing sinniert, wie es sein wird, wenn Leo wieder zurück ist. «Spätestens, wenn ich mit ihr in einem Shopping-Center war, ist das alles kein Thema mehr», sagt Messing und lacht mal wieder. Das ist sein Traum, vermutlich wird es nicht ganz so einfach gehen. Sie ist erst 20, hat aber mehr erlebt als manche Menschen in ihrem ganzen Leben.
Leo hat eine Schwester, sie wird im Februar vier. Und Maik Messing hat einen Schwiegersohn, der – vielleicht – getötet hat. «Für mich ist er der Vater meiner Enkelkinder. Wir werden einen Weg finden müssen.» Maik Messing träumt von dem Moment, in dem er seiner Tochter gegenübersteht. «Ich werde sie in den Arm nehmen und in den Arsch treten.» Jetzt muss er wieder lachen. Dieses Mal schwingt Zuversicht mit.