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Justizskandal erschüttert Hamburg: 217 Tage unschuldig im Gefängnis

Dieser Justizskandal erschüttert gerade Hamburg

217 Tage war eine junge Frau im Gefängnis. Unschuldig, wie sich herausgestellt hat. Die Staatsanwaltschaft hatte alle Entlastungszeugen ignoriert.
26.08.2023, 19:1626.08.2023, 19:41
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Ein Artikel von
t-online

Das Baby irgendwo bei Fremden in der Betreuung. Die Mutter im Gefängnis. Unschuldig. Sie weiss nicht, wie es ihrem Kind geht. Ein Justizskandal erschüttert Hamburg.

Die Opfer: Julia B. und ihr kleiner Sohn Miguel*. Monatelang war sie inhaftiert. Der Vorwurf: Mord aus Habgier. Angeblich soll sie einen ehemaligen Restaurantbesitzer in seiner Wohnung ermordet haben. Im neunten Monat schwanger, mit blossen Händen. Der Beweis: Die Staatsanwaltschaft hatte ihre DNA unter einem Fingernagel und an der Kleidung des Getöteten gefunden.

Das Baby wurde in sieben verschiedenen Einrichtungen untergebracht

Das genügte der Staatsanwaltschaft Hamburg, um sie in Untersuchungshaft zu nehmen. Das Alibi von Julia B. liess sie nicht gelten. Sie hatte zum fraglichen Zeitpunkt ein Hotelzimmer geputzt, fünf Stunden lang, gemeinsam mit einer Kollegin.

Das sechs Monate alte Baby wurde ihr weggenommen, verbrachte die folgenden Monate in sieben verschiedenen Betreuungseinrichtungen. Zuerst hatten die taz und die Hamburger Morgenpost darüber berichtet.

Mutter und Sohn durften sich die ersten Monate gar nicht sehen, später nur sporadisch. Alle Anträge auf eine gemeinsame Unterbringung der beiden wurden abgelehnt. Dabei wäre das möglich in gewesen: In Hamburg-Billwerder gibt es eine Abteilung für genau solche Fälle.

Vermutlich wäre die Frau heute noch dringend tatverdächtig und das Baby immer noch in Obhut des Jugendamtes. Das wollten die Verteidigerinnen von Julia B. nicht akzeptieren und liessen auf eigene Faust und Rechnung ein forensisches Gutachten erstellen. Das brachte die Wende.

Die beauftragten Forensikerinnen legten dar, dass die am Tatort gefundene DNA sehr wohl fünf Tage vor der Tat dorthin gelangt sein könnte. Die Oberstaatsanwältin und die Haftrichterin hatten dieses Szenario mehrfach ohne Begründung ausgeschlossen. Auch die Kollegin der Angeklagten wurde während der Ermittlungen nicht befragt. Erst im Prozess hat sie das Alibi der Frau bestätigt.

Im Prozess brach der Vorwurf zusammen

«Was wäre geschehen, wenn die Verteidigung nicht auf eigene Faust und eigene Kosten dieses Gutachten in Auftrag gegeben hätte?», fragte Verteidigerin Fenna Busmann daraufhin in ihrem Plädoyer. So zitiert sie die taz.

Im Laufe des Prozesses brach die Anklage wegen Mordes mehr und mehr in sich zusammen. Auch weil der Ermordete an seinem letzten Tag Streit mit einer anderen Person hatte, die von der Staatsanwaltschaft nicht vernommen wurde.

16'000 Euro bekommt Julia B. als Entschädigung

Das reichte: In ihrem Plädoyer forderte die Verteidigung auf Freispruch, die Nebenklage schloss sich an, auch die Staatsanwaltschaft ruderte nun zurück, hält die Frau nun ebenfalls für unschuldig. Ihre Begründung, laut «Hamburger Morgenpost» : Die Bewertung des Tatverdachts habe sich geändert.

Insgesamt 217 Tage sass Julia B. im Gefängnis. Sollte sie freigesprochen werden, bekommt sie gut 16'000 Euro Entschädigung. 75 Euro pro Tag. Die wichtige Zeit mit ihrem kleinen Baby ist unbezahlbar und verloren.

Am Montag soll vor dem Landgericht Hamburg das Urteil verkündet werden. Bis dahin will sich die Staatsanwaltschaft nicht äussern, teilt Sprecherin Liddy Oechtering t-online mit. Danach werde die Staatsanwaltschaft den Fall neu bewerten.

Verwendete Quellen:

  • mopo.de: «Frau sitzt sieben Monate in U-Haft-ohne ihr Baby»
  • taz.de: Alle fordern Freispruch für Mutter
  • Telefonat mit der Pressestelle der Staatsanwaltschaft Hamburg

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(Von t-online, bum)

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59 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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D.Enk-Zettel
26.08.2023 19:45registriert Oktober 2021
eigentlich müsste hier die involvierten Juristen, welche für das Fiasko verantwortlich waren, ebenfalls zur Kasse gebeten werden und die selbe Busse für äusserst mangelhafte Arbeit , Grobfahrlässigkeit und rechtswidriges Verhalten auferlegt bekommen. Jede / r einzelne sollte die gleiche Summe bezahlen müssen wie die Pauschalabgeltung aus der Staatskasse notabene aus der eigenen Tasche.
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DasWölfchen
26.08.2023 20:43registriert April 2023
Im 9. Monat bewegt man sich so schnell wie eine Schnecke, hat kaum Luft und fühlt sich matt (weiss wovon ich schreibe). Ich staune, dass sie 5 Stunden putzen konnte - vielleicht wäre das eine 1h-Arbeit gewesen, sie brauchte aber 5h. Aber mit blossen Händen erwürgen? Und dann noch einen Mann? Da hat es sich jemand aber massiv einfach gemacht.
Hoffentlich kriegt sie das mit dem Kind noch hin… Verbockt hat es die Staatsanwaltschaft.
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Lion:ess
26.08.2023 20:32registriert Dezember 2015
Im 9. Monat schwanger konnte ich jeweils nicht atmen, während des Schuhe anziehens. Wie soll man da jemanden mit blossen Händen ermorden? Auch die ganzen Unterlassungen der Staatsanwaltschaft sind unglaublich. Dies im Jahr 2023 in Deutschland.
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