Dieser Auftritt der Kanzlerin bleibt bis ganz zum Schluss ein besonderer. Als Angela Merkel fertig ist mit ihrer Rede, winkt sie wie üblich ein bisschen ins Publikum – das Unübliche ist, dass dieses Publikum zurück winkt.
Absolventen und Ehemalige der Elite-Universität Harvard, sie schwenken die Arme wie auf einem Popkonzert. Als die Moderatorin zurück ans Mikro tritt, schaut sie Merkel an und sagt: «Wow!»
Wann hat zuletzt jemand in Deutschland nach einer Merkel-Rede «Wow!» gesagt?
Merkel hat in Harvard am Donnerstag die Ehrendoktorwürde verliehen bekommen und die feierliche Abschlussrede des Studienjahres gehalten. Eine grosse Ehre für Merkel persönlich, doch der Tag wird auch als besonderer Tag in ihre politische Vita eingehen: Denn in der liberalen Harvard-Welt wird Merkel wie eine Heldin verehrt und ihre Spitzen gegen all das, wofür Donald Trump steht, ernten Riesenapplaus.
Ihre Rede ist nicht nur, aber auch, eine Abrechnung mit dem US-Präsidenten. Weil Merkel all dem, wofür Trump steht, Punkt für Punkt eine andere Haltung entgegensetzt.
Kurz nachdem ein YouTuber in Deutschland also mit der «Zerstörung» von Merkels CDU die Politik durcheinandergewirbelt hat, liefert Merkel eine «Zerstörung» Trumps auf US-amerikanischem Boden ab.
Das Publikum an der liberalen Elite-Uni begehrt den Kontrast zu Trump, und Merkel liefert. Die Botschaft: Politik kann auch im Jahr 2019 ganz anders gehen. Merkel wirkt hier als Bewahrerin einer liberalen Weltordnung, die sich an allen Ecken und Enden auflöst.
Wenn sie sagt, «Mehr denn je müssen wir multilateral statt unilateral denken und handeln, global statt national, weltoffen statt isolationistisch», dann gibt es viel Applaus von rund 20'000 Havardianern. Der Gegenentwurf zu Trumps «America First»-Aussenpolitik. Natürlich alles, ohne seinen Namen zu erwähnen, das verbietet sich.
Merkel sagt, Handelskonflikte gefährdeten den Wohlstand (auch dafür gibt es deutlichen Applaus), Trump wiederum verhängt ein paar Stunden darauf neue Strafzölle gegen Mexiko, weil ihm dessen Migrationspolitik nicht passt.
Wahren Jubel und standing ovations erntet Merkel, als sie über Wahrhaftigkeit spricht. «Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen.» Als der Satz ins Englische übersetzt wird, erheben sich Tausende von den Plätzen.
Merkel ist hier in Harvard die humanitäre Flüchtlingskanzlerin, die Anführerin Europas, der Ruhepol einer aus dem Lot geratenden Welt. Als Chefin einer lustlosen Koalition in Berlin, als Ausbremserin in Europa, deren Flüchtlingspolitik für Verwerfungen gesorgt hat, kennt man Merkel in Harvard nicht so gut.
Die grosse Merkel-Show begann, als ihr am Vormittag die Ehrendoktorwürde verliehen wurde – schon da gab es kräftig Jubel. Als Merkel dann ein paar Stunden später von der Chefin des Alumni-Vereins vorgestellt wurde, machte die aus Merkel quasi eine Superpolitikerin, die Mindestlohn und Homo-Ehe in Deutschland eingeführt habe.
Jubel für beides, aber zur Erinnerung: Es waren Projekte, die gegen Merkels langen Widerstand durchgesetzt wurden, fragen Sie mal die SPD. Egal – die deutsche Innenpolitik ist weit, weit weg.
Und immer immer wieder die Flüchtlingskrise. Da gibt es in der Vorstellung den lautesten Applaus. «Wir schaffen das» – das Zitat steht auch in der Ankündigung der Rede.
Spricht man mit den Absolventen der Elite-Hochschule (Studiengebühren 47'000 Dollar im Jahr) über Merkel, fallen immer wieder zwei Worte: Inspiration und Kontrast.
Sie meinen Kontrast zur politischen Führung in den USA, Merkel als Negativfolie zu Trump.
«Der Kontrast ist einfach erstaunlich», sagt Anna Miller, die ihren Abschluss in Gesundheitsstudien gemacht hat. Sie hofft auf ein paar Worte zur Flüchtlingspolitik, sagt sie vor der Rede. «Wir alle dürsten nach dem, für was sie steht.» Nach dem Abschluss will sie in Harvard bleiben und in einem Projekt zum Klimawandel arbeiten.
Typisch für das Publikum sind auch Leute wie Shalen De Silva, der unter anderem in Sri Lanka, Hongkong, Singapur und Australien aufwuchs. Gerade feiert der Absolvent, der seinen Job als Banker nach Jahren an den Nagel hing, um Gesundheitswesen zu studieren, vor der Statue des Uni-Namensgebers John Harvard, über der an diesem Tag eine grosse deutsche Flagge flattert.
«Sie ist eine inspirierende Figur, bescheiden, kompetent, Getöse ist ihr fremd», sagt De Silva. «Ich glaube, sie kann alle Seiten anhören und steckt nicht in den Kämpfen der Identitätspolitik fest.» Er meint die Kulturkämpfe zwischen US-amerikanischer Linker und Rechter, die Trump so gekonnt ausschlachtet.
Merkel will dem Jahrgang ein paar Lektionen aus ihrem wechselvollen Leben mit auf den Weg geben. Sie spricht persönlicher über sich und ihren Lebensweg, als man es aus Deutschland kennt.
Eine Metapher ist die Berliner Mauer, die ihr den Weg wortwörtlich verbaut habe, und deren Fall sie genutzt habe, um sich neu zu erfinden. Merkel überrascht auch damit, dass sie diesen Mut zu einem radikalen Neustart auch für ihre Zeit nach der Politik in Aussicht stellt: Was für sie «nach dem Leben als Politikerin» folge, sei völlig unklar. «Nur eines ist klar: Es wird wieder etwas Anderes und Neues sein.»
Auf Englisch spricht Merkel dann am Ende davon, dass man die Mauern von Ignoranz und Engstirnigkeit einreissen müsse.
Auch dieser Seitenhieb ist unzweideutig. Es gibt – natürlich – langen Applaus.
Dann ist alles vorbei, die Kanzlerin muss nach 25 Stunden in der wunderbaren Harvard-Blase zum Flughafen, zurück in den Berliner Alltag, wo dann auch noch Mike Pompeo wartet, der Aussenminister Trumps.