Hätte der islamistische Terroranschlag in Berlin im Dezember 2016 verhindert werden können? Vor dem Islamisten Amri hat besonders ein V-Mann gewarnt. Aber er wurde nicht gehört. Nun legen «Spiegel»-Journalisten seine Geschichte vor.
VP01 heisst er in den Akten, der V-Mann, der mit dem späteren islamistischen Attentäter Anis Amri unterwegs war. Er ermittelte verdeckt für die Kriminalpolizei in Nordrhein-Westfalen unter Dealern, Mördern, Dieben und schliesslich unter Islamisten und Terroristen.
Murat Cem ist sein Deckname, wie der «Spiegel» Anfang März berichtete. In «Undercover - Ein V-Mann packt aus» beschreiben die «Spiegel»-Reporter Jörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid detailliert seine Einsätze.
Vielen lieben Dank an die Kollegen @soko81 und @spallek , mit denen ich gestern bei @radioeins über unser Buch „Undercover: Ein V-Mann packt aus“ gesprochen habe. @romanlehberger @SponDiehl https://t.co/sdwv9LR7QE
— Fidelius Schmid (@FideliusSchmid) May 15, 2020
Vor dem islamistischen Terroranschlag auf einem Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 hatte Cem die Polizei mehrfach vor Amri gewarnt. Die Autoren bezeichnen ihn als «wohl wichtigsten Polizeispitzel der deutschen Kriminalgeschichte».
V-Männer sind die Geheimwaffen der Polizei gegen Verbrecher und Extremisten. Und oft die einzige Chance, um Mörder zu überführen oder in abgeschottete Kreise von Drogenhändlern oder Islamisten vorzudringen. Sie werden Vertrauenspersonen (VP) genannt. Selten erfährt die Öffentlichkeit von ihren Einsätzen.
Murat Cem wird auf Verdächtige angesetzt, um sie auszuhorchen. Was er dabei nicht darf: selber Straftaten begehen oder andere dazu drängen. Vertrauen unter Kriminellen gewinnt man aber nur, wenn man nicht zimperlich ist. Der V-Mann ist auf einer ständigen Gratwanderung. Die Regeln legt Cem «situationsbedingt» aus, wie die Autoren schreiben.
Der junge Mann mit freundlichem Auftreten und fundierten Kenntnissen der Kleinkriminalität geht wochenlang auf Polizeikosten mit Dealern und Mördern trinken, zum Glücksspiel und ins Bordell, nimmt Drogen und plant grosse Rauschgiftgeschäfte. Bei der Übergabe des Stoffs schlägt dann regelmässig ein Spezialeinsatzkommando (SEK) zu.
Die Polizei lobt und bezahlt Cem. 100 Euro gibt es pro Tag in bar. Sie schickt ihn aber auch immer wieder in neue Einsätze, ohne Rücksicht auf sein Familienleben oder andere Jobs. Die Fahnder brauchen Erfolge, Cem geniesst sein Leben als eine Art Geheimagent.
Von insgesamt 60 Einsätzen in 17 Jahren ist in dem Buch die Rede. Selten geht etwas schief. Einmal durchschaut ein türkischer Zuhälter mitsamt seiner Schlägertruppe in Köln Cem, trotzdem bleiben sie befreundet. Eine Fahnderin schimpft gegenüber seinen VP-Führern, die Polizei könne nicht die ganze Zeit «Murats Fickerei» bezahlen.
Das Buch beruht vor allem auf Cems Schilderungen. Vieles sei durch Akten und Gespräche mit Weggefährten überprüft worden, beteuern die Autoren. Manche Passagen stützen sich trotzdem nur auf Cems Erinnerungen - auch wenn der «Spiegel» sie so erzählt, als sei er dabei gewesen.
2013 setzt die Kriminalpolizei Cem auf Islamisten in Nordrhein-Westfalen an. Monatelang betet er in Moscheen, lässt sich einen Bart wachsen und dringt in die Salafistenszene im Ruhrgebiet vor. Er liefert Informationen über Hassprediger und mögliche Anschlagspläne, die zu einem umfangreichen Ermittlungsverfahren führen.
Am 17. November 2015 lernt Cem den Tunesier Anis Amri kennen, der in den nächsten Monaten viel von Anschlägen spricht. Cem informiert das Landeskriminalamt (LKA) Nordrhein-Westfalen. Dort ist man alarmiert. Gleichzeitig wiegelt das Bundeskriminalamt (BKA) ab und hält Cem als Quelle für nicht zuverlässig. Im Februar fährt Cem mit Amri nach Berlin in die islamistische Fussilet-Moschee. Bis zu seinem Anschlag zehn Monate später geht Amri dort ein- und aus. Cem kehrt zurück ins Ruhrgebiet, wenig später gibt es Streit. Beide sehen sich nie wieder.
Im Herbst 2016 zieht das LKA Cem aus der Islamistenszene ab. Es gibt Razzien, die Islamisten nennen ihn einen Spion und rufen zu seiner Tötung auf. Cem warnt das LKA noch einmal vor Amri. Doch der ist dort nicht mehr wichtig, zuständig ist inzwischen Berlin. Murat Cems V-Mann-Karriere läuft aus, das LKA schickt ihn samt Familie in ein Zeugenschutzprogramm. Der ehemalige Top-Spitzel ist unglücklich. Kurz nach dem Terroranschlag am 19. Dezember 2016 in Berlin klingelt sein Handy. «Es war Anis Amri», sagt ein Polizist.
2017 wird durch Zeitungsberichte bekannt, dass ein V-Mann an Amri dran war. Ab 2019 erzählt Cem dem «Spiegel» in langen Sitzungen seine Geschichte. Demnächst hat er noch andere Zuhörer: Der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags zum Berliner Terroranschlag beschloss Anfang Mai, die VP01 vorzuladen und als Zeugen zu befragen. (aeg/sda/dpa)
Regelmässig kommt dann nachträglich raus, dass man die Informationen eigentlich gehabt hätte. Die Behörden haben‘s massiv verkackt. Und das wird mit grösseren Bergen von Daten alles andere als besser...