Das Kap Flamanville am westlichen Zipfel der Normandie könnte nicht idyllischer sein: Hübscher Bootshafen im Norden, wilder Strand und ursprüngliche Heidenlandschaft im Süden. Nur drei überdimensionierte «Kochtöpfe» stören die Sicht. Es sind die beiden bestehenden Atommeiler von 1986 sowie der neue Druckwasserreaktor, kurz EPR.
Was in dem riesigen, teils in den Fels gehauenen Gelände vorgeht, wissen die Möwen. Presseleute sind nicht erwünscht, vielleicht, weil nur Negativschlagzeilen anfallen. Der neue EPR der dritten AKW-Generation sollte ursprünglich 3.1 Milliarden Euro kosten und ab 2012 Strom produzieren. Die französischen Atomingenieure, die erstmals seit Jahrzehnten wieder ein Kraftwerk bauen, haben aber das Know-how verloren; sie reihen Baufehler und Sicherheitspannen aneinander. Heute kostet der Bau 19 Milliarden, und wann er ans Netz gehen wird, wissen nicht einmal die Möwen.
Mitte Januar hat die Lokalzeitung «Ouest-France» neue Defekte geortet, unter anderem an den Schweissnähten des sekundären Kühlsystems. Die Bauherrin Electricité de France (EDF) spricht nun von einem Betriebsstart Ende 2023. Experten rechnen im besten Fall mit 2024. In einem Wort: Flamanville ist ein Fiasko.
Im gleichnamigen Dörfchen zucken Passanten ob der Bauverzögerung die Schultern. «Dann haben unsere Jugendlichen eben länger Arbeit», flachst ein älterer Mann. Im hübsch herausgeputzten Rathaus – EDF kommt hier für die meisten Lokalsteuern auf – antwortet die Empfangsdame auf die Frage, wie es sich im Schatten eines Dreifach-AKW anfühle: «On fait avec» – «Wir leben damit.» Ein Risiko gebe es bei allem, n’est-ce pas?
Der Bürgermeister ist nicht zu sprechen. Im aufliegenden Gemeindeblättchen ärgert sich Patrick Fauchon darüber, dass von den 4000 AKW- und Bauarbeitern nur deren hundert den Lokalbus zum Reaktorgelände nähmen. Dabei habe die Gemeinde drei Buslinien eröffnet!
Das Verhalten sei nicht gerade ökologisch, fügt Fauchon an. «Wir müssen zusammen gegen die Klimaerwärmung vorgehen. Steigt aufs Velo!» Allein, fügt er an: Kein Beitrag sei so wichtig wie die der Kernkraft. Der neue EPR sei sicherer als ältere Reaktoren, er produziere weniger Abfall und kaum CO2.
Das ist das schlagende Argument im Cotentin, der Nordwestspitze der Normandie. Abgesehen von der Landwirtschaft und dem Tourismus leben hier alle vom «nucléaire».
Das Cotentin ist ein Konzentrat der französischen Atompolitik mit ihren 56 Meilern sowie der militärischen «Force de Frappe» (300 Nuklearsprengköpfe).
«La Hague entstand, weil Charles de Gaulle die Atombombe wollte, für die es aufbereitetes Plutonium braucht», sagt André Jacques vom hiesigen «Komitee für den Kampf gegen Atom» (Crilan). «Mit dem Atom ist es hier wie mit der Religion: Am Familientisch spricht man nicht darüber.»
Auch nicht von der Leukämie, deren Rate im Contentin laut Jacques höher liegt als anderswo. Angst habe man hier indessen nur vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, wenn des neuen Reaktors scheitern sollte. «Wenn der EPR nie fertig wird», ist sich Jacques sicher, «würde das den gesamten französischen Atomkurs in Frage stellen.»
Nach Flamanville sollen in ganz Frankreich sechs weitere EPR-Meiler mit einer Leistung von je 1660 Megawatt entstehen. Das hat Präsident Emmanuel Macron im November versprochen.
Was er nicht sagte: Der Stückpreis pro EPR dürfte grob gerechnet zehn Milliarden Euro betragen. Das Argument des «billigen Atoms» würde damit entfallen. Doch Frankreichs Stromproduktion bleibt zu 70 Prozent von Kernkraft abhängig. «Dafür vernachlässigt die Regierung die erneuerbaren Energien», bedauert Jacques.
Romain Travers, der in der Wiederaufbereitungsanlage La Hague arbeitet, ist damit nicht einverstanden: «Die sauberste Energie ist Atomkraft», sagt der junge Chemiker kategorisch. «Und sie ist zuverlässig. Wenn es nicht genug windet in Deutschland, muss die französische Kernkraft über den Stromengpass helfen.»
Travers ist Mitglied der CGT, der ehemals kommunistischen Landesgewerkschaft. Dass er stramm links steht, hindert ihn nicht, auf Atomkraft zu setzen.
Auch wenn sich in La Hague die abgebrannten Brennstäbe stapeln, weil die ganze Produktionskette stockt? «Wir bauen dafür ein zweites Kühlbecken», wiegelt Travers ab. Und auch wenn die Abfälle 10'000 Jahre strahlen? «Mit der richtigen Endlagerung ist das kein Problem.»
Immerhin hat der Vorsteher der französischen Atomsicherheitsbehörde ANS, Bernard Doroszczuk, vor einigen Tagen erstmals erklärt, dass Frankreich – wie die USA – die Wiederaufbereitung von radioaktivem Brennstoff aufgeben könnte. Denn sie sei weder rentabel noch zukunftsträchtig.
Travers räumt ein: «Es gibt in La Hague oder Flamanville immer technische Hürden. Aber am Schluss sind doch alle froh, dass es den Atomstrom gibt – nicht zuletzt gegen die Klimaerwärmung», sagt der Gewerkschafter und verschränkt zufrieden seine Arme, was seinen Bizeps betont. «Wir, die hier arbeiten, wissen: Wir haben alles im Griff.»
Für eine weiter strahlende Zukunft.
Stimmt schon, der Atommüll ist nachhaltig für 100 000 Jahre für viele Generationen vorhanden. Vor 100'000 Jahren hat der Mensch übrigens gerade einmal Afrika und den Nahe Osten besiedelt.