Kaum ein Thema spaltet die EU so tief wie der Umgang mit Asylsuchenden. Regierungen wurden wegen der Migration abgewählt, andere kamen deswegen erst an die Macht. Einig war man sich bis anhin bloss: Das gemeinsame Asylsystem ist kaputt. Für die Schweiz zeigt sich dies aktuell darin, dass Italien keine sogenannten Dublin-Flüchtlinge mehr zurücknimmt. Am Donnerstag treffen sich die EU-Innenminister unter Teilnahme der Schweiz nun in Luxemburg zum entscheidenden Asylgipfel. Gelingt nach jahrelanger Blockade die Einigung? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Es geht um das Herzstück des sogenannten Asyl- und Migrationspakts: eine Revision des «Dublin-Systems» und neue, schnelle Asylverfahren an den EU-Aussengrenzen. Die Herausforderung besteht darin, eine Balance zwischen Solidarität auf der einen und Verantwortung auf der anderen Seite zu finden. Die Erstankunftsländer im europäischen Süden wie Italien, Griechenland oder Spanien wollen nicht mehr die Hauptlast der Migration tragen.
Die nördlicheren EU-Länder zeigen dafür Verständnis. Gleichwohl verlangen sie, dass die Südländer ihre Verantwortung wahrnehmen und die EU-Aussengrenze schützen. Konkret heisst das: Die Erstankunftsstaaten müssen aufhören, Migranten Richtung Norden durchzuwinken. Dafür versprechen die Nordländer, ihnen einen Teil der schutzbedürftigen Personen abzunehmen.
Nein. Diese Massnahme, welche die EU nach der Flüchtlingskrise 2015 nachhaltig erschüttert hat, ist vom Tisch. Die Neuregelung sieht ausdrücklich vor, dass jedes Land sich nur freiwillig an der Verteilung von Asylberechtigten beteiligen kann. Niemand wird gezwungen.
Aber: Wer keine Flüchtlinge aufnehmen will, muss sich anderweitig solidarisch zeigen. Zum Beispiel, indem er einen Geldbetrag bezahlt. Zuletzt war die Rede von 20'000 Euro pro Flüchtling. Alternativ kann ein Land auch Personal und Ausrüstung zur Bewältigung von Asyl- und Grenzschutzaufgaben bereitstellen. Das Motto lautet: Verteilung ist nicht obligatorisch, Solidarität aber schon.
Die entscheidende. Bis zu 80 Prozent der Migranten, die irregulär in die EU einreisen, haben kein Anrecht auf Asyl. Um diese frühzeitig herauszufiltern, sollen an der EU-Aussengrenze neue, abgekürzte Asylverfahren stattfinden. Diese sollen drei Monate lang dauern. Wer aus einem Staat kommt, dessen Asyl-Anerkennungsquote unter 20 Prozent liegt, soll direkt ins abgekürzte Verfahren und bei negativem Entscheid rasch in sein Heimatland oder einen sicheren Drittstaat zurückgeführt werden.
Mit dieser Massnahme verspricht man sich ein Ende der sogenannten Sekundärmigration, also der irregulären Weiterreisen. Die Durchführung der Asylgrenzverfahren erfordert von den Südländern aber einen riesigen Aufwand und die Übernahme von Verantwortung. Deshalb müssen sich die nördlicheren EU-Staaten solidarisch zeigen.
Bei der EU ist man sich einig, dass es so nicht weitergehen kann. Einerseits wegen der wiederkehrenden Bootsunglücke auf dem Mittelmeer. Andererseits hat auch der Ukraine-Krieg zu einem Umdenken geführt: Staaten, welche nie mit Migration konfrontiert waren, erhielten plötzlich Tausende Flüchtlinge. Trotzdem gibt es noch Länder, die sich kategorisch gegen eine Revision sperren. Sie wollen Migration nicht steuern, sondern komplett unterbinden.
Zu ihnen gehören Ungarn und Polen, obwohl sie viele Ukraine-Flüchtlinge aufgenommen haben. Ob sich eine Einigung finden wird, ist unklar. EU-Diplomaten schätzen die Chancen auf 50:50. Ausschlaggebend dürfte Italien sein. Die rechte Regierung von Giorgia Meloni drängt auf ein möglichst hohes Mass an Solidarität. Fordert Rom aber zu viel, dürften das Gleichgewicht kippen und migrationsskeptische Nordeuropäer abspringen.
Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider steht innenpolitisch unter Druck wegen des zunehmenden Migrationsstresses. Sie wird sich am Donnerstag beim Treffen in Luxemburg entschieden für eine Reform des europäischen Asylsystems einsetzen, wie es die Schweiz seit jeher getan hat. Vom neuen Solidaritätsmechanismus ist die Schweiz zwar nicht direkt betroffen. Aber: In der Vergangenheit hat sich der Bundesrat stets solidarisch gezeigt und auch Flüchtlinge übernommen.
Eine Einigung unter den EU-Staaten wäre die grosse, lang erwartete «Quadratur des Kreises». Allerdings ist das noch nicht das Ende. Dann folgt erst die Verhandlung mit dem EU-Parlament, welches eine weichere Migrationspolitik vertritt. Das werde nochmals eine richtig harte Nuss zu knacken sein, so Beobachter. Ziel ist es, das Dossier bis vor den Europawahlen im Frühling 2024 abzuschliessen. (aargauerzeitung.ch)