Europas steiniger Weg zur Supermacht
Jetzt soll es schnell gehen: Bis in fünf Jahren will Europa «verteidigungsfähig» sein. Darauf haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfeltreffen am Donnerstag in Brüssel verständigt.
Mindestens 800 Milliarden Euro braucht es dazu. So steht es im sogenannten «Weissbuch zur Verteidigung», welches die EU-Kommission tags zuvor präsentiert hat. Es ist der Plan, aus Europa bis zum Jahr 2030 eine militärische Supermacht zu machen. Oder zumindest eine, die sich gegen einen Angriff Russlands behaupten kann. Auch ohne amerikanische Hilfe, wenn es sein muss.
Doch der neue EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius hat recht, wenn er sagt: «Wladimir Putin lässt sich nicht abschrecken, indem wir ihm das Weissbuch vorlesen.» Der Litauer fordert: «Umsetzen, umsetzen, umsetzen!»
Leider wird das nicht ganz einfach. 800 Milliarden Euro fallen nicht vom Himmel. Und schiebt man den Vorhang der neuen Selbstverteidigungs-Rhetorik etwas zur Seite, tun sich in Europa durchaus tiefe Gräben auf. Eine Übersicht:
Frankreich sagt: «Wir haben es schon immer gewusst»
Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2017 spricht der französische Präsident Emmanuel Macron unentwegt von der «Souveränität», die Europa erreichen müsse. Er kann gut reden, denn Frankreich ist souverän. Es hat eigene Atomwaffen, es baut eigene Kampfjets, eigene U-Boote, eigene Flugabwehrsysteme.
Das hat Paris viel Geld gekostet. Frankreich gehört zu den am höchsten verschuldeten Staaten in Europa. Deshalb sagt Macron jetzt auch: Wenn wir schon Hunderte Milliarden in die europäische Aufrüstung investieren, sollten wir eigene Waffen kaufen und nicht das Geld der europäischen Steuerzahler nach Amerika überweisen. Und natürlich sagt Macron mit Blick auf die eigene Haushaltskasse auch, dass man die Anstrengungen zusammen schultern müsse. Das heisst: gemeinsame EU-Schulden machen, sogenannte «Verteidigungsbonds».
Deutschland bleibt in der US-Nostalgie gefangen
Deutschland sieht das anders. Nach einer langen Politik der «Schwarzen Null» hat es sich eben durchgerungen, viel Geld für die Bundeswehr in die Hand zu nehmen. Jetzt will man nicht auch noch die Rechnungen der anderen bezahlen. Noch-Bundeskanzler Olaf Scholz sperrt sich deshalb vehement gegen jegliche EU-Verteidigungsbonds und hört nicht auf zu betonen, dass das auch bei der kommenden Regierung von Friedrich Merz so sein werde.
Deutschland ist anders als Frankreich auch in einer US-Abhängigkeit gefangen. Das Land hat 70 Prozent seines Kriegsgeräts in den USA gekauft. Von einer «Hergestellt in Europa»-Klausel will Berlin deshalb nichts wissen. Es hofft, dass vom neuen 150 Milliarden schweren EU-Kreditprogramm zum Beispiel auch Flugabwehrraketen des US-Systems «Patriot» gekauft werden können. Zum Beispiel solche, die in der Fabrik in Bayern gebaut werden.
Im Süden ist der Weckruf noch nicht angekommen
Die Wahrnehmung bestimmt die Realität und diese sieht so aus, dass im Süden Europas der Weckruf durch die russische Bedrohung noch nicht angekommen ist. Italien und Spanien, immerhin die dritt- und viertstärksten Volkswirtschaften in der EU, haben nicht nur der Ukraine sehr überschaubare Militärhilfen geliefert. Sie gehören mit 1,6 Prozent respektive 1,3 Prozent Verteidigungsausgaben gemessen an der Wirtschaftskraft auch zu den Schlusslichtern in Europa.
Viel Lust, das zu ändern, ist im Moment nicht zu spüren: «Unsere Gefahr ist nicht, dass Russland seine Soldaten über die Pyrenäen schickt», sagte der spanische Premier Pedro Sanchez unlängst. Seine Prioritäten liegen eher in der Cybersicherheit, der Bekämpfung der illegalen Migration und beim Klimaschutz. In Italien führt Premierministerin Giorgia Meloni derweil eine Regierung mit dem Lega-Chef Matteo Salvini, der auf die Demütigung von Wolodimir Selenski bei US-Präsident Donald Trump mit russischem Vodka angestossen hat, wie italienische Medien berichten.
Ungarn ist sein eigenes Lager
Anders als das «Nicht unser Problem»-Lager ist Viktor Orbáns Ungarn schon mehr oder weniger offen auf der Seite Russlands. Orbán blockiert in Brüssel systematisch alles, was mit der Ukraine-Unterstützung zu tun hat. «Strategische Abweichung», nennt er es. Es ist normal geworden, dass an EU-Gipfeln zur Ukraine mittlerweile im Format 26 minus 1 beschlossen werden muss. So auch am Donnerstag. Der slowakische Premier Robert Fico ist zwar oft gleicher Meinung wie Orbán, scheut aber den offenen Widerstand.
Die Kassandrarufer
Niemals Illusionen über Putins imperiale Absichten gemacht haben sich andere osteuropäische Länder wie Polen oder das Baltikum. Sie investieren proportional auch am meisten in ihre Verteidigung. Während sie in anderen Bereichen traditionell eher gegen EU-Schulden sind, ist es bei der Verteidigung anders. Pragmatisch sind sie für alles, was die Verteidigungsfähigkeit erhöht.
Als ehemalige estnische Premierministerin gehört die EU-Aussenbeauftragte Kaja Kallas heute in der EU zu jenen Stimmen, die am eindringlichsten zur Eile drängen. Tragisch wäre es, wenn sie und ihre osteuropäischen Kollegen am Schluss das gleiche Schicksal erlitten wie die griechische Hellseherin Kassandra. Deren Warnungen verhallten bekanntlich ungehört. (aargauerzeitung.ch)
