Klare Worte des Europarats in Strassburg: Die massenhafte Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland trage die Anzeichen eines Genozids, also Völkermords, so die älteste Menschenrechtsorganisation in Europa, der 46 Staaten angehören.
Es gebe Beweise, dass der Transfer der Kinder von Russland «systematisch geplant und organisiert sei» mit dem Ziel der «Russifizierung» und der «Auslöschung jeder Verbindung und jedes Merkmals ihrer ukrainischen Identität», hiess es in einer am Freitag angenommenen Resolution.
Zuvor schilderte die ukrainische First Lady Olena Selenska in bewegenden Worten einige Einzelschicksale von Kindern, die nach Russland entführt und nur mit viel Glück und Anstrengung ihrer Angehörigen zurückgeholt werden konnten.
Da wäre zum Beispiel der 12-jährige Sashko, der zusammen mit seiner Mutter die wochenlange Belagerung der Stadt Mariupol durchgestanden habe. Als die Russen die Stadt einnahmen, wurden die beiden getrennt, ohne sich auch nur verabschieden zu können. Die Soldaten sagten dem Jungen dann, seine Mutter hätte ihn verstossen und wolle ihn nicht mehr und er werde jetzt von einer russischen Familie adoptiert. Per Zufall schaffte es Sashko, an ein Handy zu gelangen und seine Grossmutter zu kontaktieren, wonach er schliesslich gerettet wurde.
Insgesamt 361 solcher Glücksfälle von Kindern gibt es, die zurück in die Ukraine gebracht werden konnten. 19'390 Kinder sollen sich laut Selenska aber immer noch in russischer Gefangenschaft befinden. «Es gibt viele fürchterliche Kriegsverbrechen von Russland gegen die Ukraine, aber dieses ist speziell, weil es auf die am meisten Verletzlichen und Ungeschützten abzielt», so die ukrainische Präsidentengattin.
Aber was geschieht genau mit den ukrainischen Kindern, die zu Tausenden nach Russland gebracht werden? Die Frage hat diese Woche die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) in Wien beschäftigt. Ein Bericht des «Humanitarian Research Labs» der Universität Yale gibt Einblicke.
In Russland werden die Mädchen und Jungen in Camps demnach einer harten politisch-patriotischen und zum Teil auch militärischen Indoktrination unterzogen. Es gehe dabei um das Brechen und den Austausch einer Identität, so einer der Autoren des Berichts. Insgesamt 43 solche Umerziehungslager vom Westen Russlands bis in den fernen Osten werden in dem Bericht identifiziert. In Wahrheit dürften es aber wohl weit mehr sein. Unabhängige Recherchen sind in Russland und den besetzten Gebieten unmöglich.
Die Monstrosität des mutmasslichen Verbrechens hindert russische Vertreter nicht daran, darüber öffentlich zu sprechen. Im Gegenteil: Präsident Wladimir Putin und seine Kinderschutzbeauftragte Maria Lvova-Belova prahlen über ihre vermeintliche Wohltätigkeit: Sie selber habe zehn ukrainische Kinder in ihrer Obhut, so Lvova-Belova.
Nicht zuletzt versucht Russland auch mit konkreten Schritten in der Gesetzgebung vollendete Tatsachen zu schaffen: Ein erleichterter Zugang zur russischen Staatsbürgerschaft für Kinder aus der Ukraine sowie Änderungen in der Adoptionsgesetzgebung. Sind die Kinder einmal adoptiert oder einer Pflegefamilie zugewiesen, können sie laut dem Yale-Bericht nur schwer noch ausfindig gemacht werden. Diese Kinder sollen niemals wieder gefunden werden.
«Ein wohlorchestriertes Chaos», nennt eine Autorin die Situation. Es diene vor allem der Verwischung der Nachverfolgung. Das bestätigen auch westliche Diplomaten bei der OSZE: Gebe es die Namens- oder Camp-Listen oder gar die direkten Befehle, wäre die genozidäre Absicht nämlich beweisbar.
Mitte März hat der internationale Strafgerichtshof in Den Haag offiziell Strafbefehl gegen Putin und seine Kinderschutzbeauftragte erlassen. Bei der Verschleppung ukrainischer Kindern handle es sich offiziell um ein Kriegsverbrechen, so die internationale Organisation. (aargauerzeitung.ch)