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Wahlsieg von Marine Le Pen: Frankreich ist nicht mehr, was es war

Von Chirac zum Wahlsieg von Le Pen: Frankreich ist nicht mehr, was es war

Die französische Rechte ist in den letzten zwanzig Jahren unter Marine Le Pen zur dominierenden Massenpartei in der Nationalversammlung geworden. Die Wahl am Sonntag bringt sie der Macht in Paris einen Schritt näher.
02.07.2024, 10:0202.07.2024, 10:02
Stefan Brändle, Paris / ch media
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Man stelle sich vor, Frankreichs 2019 verstorbener Ex-Präsident Jacques Chirac käme heute in sein Land zurück. Er würde es nicht mehr erkennen.

Jacques Chirac
Jacques Chirac im Jahr 2002: Der damalige französische Präsident schlug Marine Le Pens Vater, Jean-Marie Le Pen, noch deutlich.Bild: imago images

Im Jahr 2002 hatte sich der Gaullist in einem historischen Präsidentschaftswahlkampf mit Jean-Marie Le Pen duelliert. Er tat es mit republikanischer Überzeugung und schlug den Rechtsextremisten mit über 82 Prozent Stimmen aus dem Feld. In den Parlamentswahlen zwei Monate später holte der rassistische und antisemitische Front National (FN) keinen einzigen Abgeordneten. Null. Die Rechtsextremen kehrten dorthin, wo sie herkamen, nämlich in das Schandeck der Republik.

Jetzt ist alles anders. Chirac käme aus dem Staunen nicht heraus: Marine Le Pen, die Tochter des 96-jährigen Parteigründers Jean-Marie Le Pen, hat ihre laute Stimme besänftigt; sie verteidigt Israel und die Juden, was ihr sogar der bekannte Nazi-Jäger Serge Klarsfeld attestiert; und sie feuert Rassisten aus dem «Rassemblement National» (RN), der Weichspülvariante des FN.

Im Fernsehen erteilt sie Staatschef Emmanuel Macron eine Lektion nach der anderen; letzte Woche etwa erklärte sie, der Präsident sei nicht wirklich «Chef der Armee», wie es die Verfassung besagt; das sei nur ein «Ehrenjob», der kein Recht gebe, Bodentruppen in die Ukraine zu schicken. Nach seinem verheerenden Fehler mit der Neuansetzung von Neuwahlen ist der grosse französische Präsident plötzlich ganz klein geworden.

Heute die grösste Massenpartei Frankreichs

Marine Le Pen hat dagegen in den letzten Urnengängen so stark zugelegt, dass sie bei den Präsidentschaftswahlen von 2027 schon jetzt als Favoritin gilt. In der 577-köpfigen Nationalversammlung, diesem Hort der humanistischen Republik, stellt das RN seit 2022 nicht mehr null Abgeordnete, sondern deren 89. Das Wahlergebnis von Sonntag dürfte ihr nun zu einer dreistelligen Sitzzahl verhelfen.

Chirac würde es nicht glauben, aber das RN ist heute kein Faschohaufen mehr, sondern die erste, mit Abstand grösste Massenpartei Frankreichs. Die Lepenisten haben die Konservativen abgesaugt und beherrschen das politische Leben in Paris.

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Hat Frankreichs Rechtsnationale aus der Schmuddelecke geführt: Marine Le Pen beim Selfie-Knipsen.Bild: keystone

Chirac, der nicht links stand, sondern einen gestandenen Gaullismus mit Atomversuchen und Sicherheitsgesetzen pflegte, würde sich wohl im Grab umdrehen, wenn er sehen würde, wie die Le Pens die republikanischen Werte umkehren: Ihre Losung des «Nationalen Vorrangs» ersetzt das republikanische Triptychon der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Was Chirac vielleicht noch stärker verwundern würde: Der aktuelle Präsident, Emmanuel Macron, hat aus dem kapitalen Fehler seines gaullistischen Vorgängers offensichtlich nichts gelernt. Beide schätzten die Volksmeinung komplett falsch ein und setzten Parlamentswahlen, die sie nur verlieren konnten.

Frontalangriff auf Macrons Reformen

Macron wird sich dagegen in der Regierung politische Feinde einhandeln, die zusammen keine Kirschen essen werden. Der zweite Wahlgang in einer Woche muss entscheiden, wen der Präsident zu seinem Ministerpräsidenten ernennen wird. Le Pens Vize Jordan Bardella? Oder Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon?

Auf jeden Fall wollen beide Macrons mühsam erfochtene Reformen - Rentenalter 64, Arbeitslosenversicherung - schlicht und einfach rückgängig machen. Es wäre eine politische Kehrtwende und dazu eine Erniedrigung erster Güte für Macron.

Chirac, der Autorität hatte und bei seinen Landsleuten Sympathien genoss, verstünde gewiss nicht, wie verhasst sich Macron gemacht hat. Und wie dieser die Rechte - die er zu bekämpfen vorgab – de facto förderte und ihr zu ungeahnten Erfolgen verhalf.

Chirac könnte nicht nachvollziehen, wie man einen solchen politischen Trümmerhaufen anrichten kann: Die Lepenisten oder die Mélenchonisten sind drauf und dran, die Schalthebel der Macht in Frankreich zu übernehmen - und beide sind Euroskeptiker, beide werden der Nähe zum russischen Regime verdächtigt. Es muss Macron besonders schmerzen, dass weder seine Europa-Leidenschaft noch seine kompromisslose Unterstützung für die Ukraine Bestand haben dürften.

Schmerzhaft ist eben auch, dass er den Populisten an die Regierung verholfen hat. An einer Anti-Le-Pen-Demo in Paris trug eine junge Frau letzte Woche ein Schild mit der Inschrift:

«Bringt mir die Zeit zurück, als es noch eine Schande war, für das RN zu stimmen.»

Das war die Zeit Chiracs. Er lebt seit fünf Jahren nicht mehr; die verbleibenden Zeitgenossen staunen aber sicher auch, wie stark sich Frankreich in gut zwanzig Jahren verändert hat. Und sie machen sich zunehmend Sorgen darüber. (aargauerzeitung.ch)

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63 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Overton Window
02.07.2024 10:49registriert August 2022
Auf Deutsch: Le Pen hat verstanden, was die "Demokratiefreunden" von mitte bis links partout nicht verstehen wollen: die Einwanderung in Grenzen halten und nichtintegrierbare rauswerfen hat nichts mit Rassismus oder Faschismus zu tun.

Nur schade, dass deswegen der Klimaschutz dran glauben muss. Es wäre definitiv besser gewesen, hätte das die richtige Seite eingesehen.
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@Jeff
02.07.2024 11:59registriert Juli 2023
Was in der Schweiz und in Italien/Österreich/Niederlande/Polen schon früher erfolgte, erfolgt jetzt auch in Frankreich/Deutschland.

Die Themen Ausländer/Migranten, Überfremdung/zu viele Einwanderer, Kulturkampf/Islamismus bringen den Konservativen und oft eher rechten Stimmen und Wähleranteile.

Linke Ideologien verlieren Unterstützung in der Bevölkerung, rechte Ideologien scheinen eher das Vertrauen zu geniessen, das sie durch Krisenzeiten führen können und Probleme rechtzeitig lösen können.
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In vino veritas
02.07.2024 11:51registriert August 2018
Anstatt zu poltern könnte man die Situation auch neutral betrachten. Dabei würde man zur Erkenntnis kommen, dass Frankreich in der Tat nicht mehr das ist was es mal war und Le Pen deswegen so stark zulegen konnte. Doch offenbar ist das nicht gewünscht, also bleibt dem Wähler nur die Möglichkeit andere Parteien zu wählen.
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    Das Trauerspiel um Merz ist ein Geschenk für Putin und Trump
    Erst im zweiten Anlauf schaffte Friedrich Merz die Wahl zum deutschen Bundeskanzler. In einer Zeit, in der die Demokratie weltweit unter Druck ist, sind solche Machtspielchen ein fatales Signal.

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