International
Frankreich

Paris: Jüdische Familien fliehen wegen Attacken aus Vororten

Tausende jüdische Familien fliehen wegen gewalttätigen Attacken aus Pariser Vororten

An diesem Dienstag beginnt der Prozess gegen den mutmasslichen Mörder einer französischen Jüdin. In der Pariser Banlieue grassiert der Antisemitismus. Tausende jüdische Familien ziehen weg, um den immer gewalttätigeren Attacken zu entgehen.
26.10.2021, 06:3126.10.2021, 13:36
Stefan Brändle, Romainville / ch media
Mehr «International»

Das erste Mal klauten die Unbekannten Kreditkarten, Schmuck und einen Scooter. Als Stella Bensignor bei der Polizei von Romainville (östlich von Paris) Anzeige erstattete, kehrten sie zurück. «Sie kratzten in riesigen Lettern ‹Jude› und ‹Israel› in die Türen meines Autos», erzählt die jüdische Französin, und es kostet sie sichtlich Überwindung. «Ich bekam weiche Knie, begann zu zittern. Und als ich den Wagen danach zum Spengler brachte, stellte er fest, dass die Muttern an den Rädern meines Opel Mokka gelöst worden waren.»

Mireille Knoll, 85-jährig, mit zahlreichen Messerstichen ermordet
Vandalismus in Frankreich: Dutzende von Grabsteinen umgestossen, wie hier auf einem jüdischen Friedhof in Lille.Bild: keystone

Das war zu viel. Stella Bensignor, in Romainville auf die Welt gekommen und aufgewachsen, ist mit ihrer Familie in einen weniger gefährlichen Ort umgezogen. Ihr Entschluss stand fest, als ihr Polizist sagte, er gebe ihr einen guten Rat – und zwar als Vater, nicht als Gendarm: «Ziehen Sie weg.»

Die Bensignors, die bis heute auf die Festnahme der Einbrecher warten, verliessen den Ort so schnell wie möglich. «Wir zogen nicht um, wir traten die Flucht an», betont die 52-jährige Französin, die heute in einem Pariser Schönheitssalon arbeitet.

Heute wohnt sie mit ihrer Familie in in einem Pariser Vorort, dessen Namen sie nicht in der Zeitung sehen will. Ihr siebzehnstöckiger Wohnblock wirkt nicht gerade einnehmend. «Das ist uns egal, wichtig ist, wir wollen möglichst viele Nachbarn haben», sagt Frau Bensignor, die im Café öfters um sich schaut. Gleich nebenan wohne ein Maghrebiner, schräg gegenüber eine afrikanische Familie. «Wir verstehen uns bestens, nehmen auch Postsendungen entgegen, wenn die anderen nicht da sind.»

Ohnehin ohne Kippa

Und die Angst vor antisemitischen Attacken? «Ich hoffe, dass das nicht hierherkommt», sagt die energische, in schwarz gekleidete Französin. «In unserem Viertel, wo das einfache Volk lebt, redet niemand von Religion. Ob der Metzger halal ist oder der Bäcker koscher, spielt hier zum Glück noch keine Rolle.»

Anderswo schon. In einzelnen Orten oder Vierteln der endlosen Pariser Banlieue leben heute keine Juden mehr. Ihrer 20'000 seien in den letzten Jahren um- oder weggezogen, schätzt die BNVCA, die Anlaufstelle für antisemitische Gewaltakte. Der Demoskop Jérôme Fourquet listete in einem Buch ein paar Beispiele des lokalen Aderlasses in den so genannt «schwierigen» Banlieue-Orten auf: In Aulnay-sous-Bois sank die Zahl der jüdischen Familien in den letzten fünfzehn Jahren von 600 auf 100, in Blanc-Mesnil von 300 auf 100, in Clichy-sous-Bois von 400 auf 80.

Die meisten sind innerhalb Frankreichs umgezogen, andere gleich nach Israel. Und jene jüdischen Eltern, die in Frankreich bleiben, schreiben ihre Sprösslinge in die boomenden jüdischen Privatschulen ein. Wie auch Stelle Bensignor: «Wir hatten keine Wahl, obwohl meine Kinder keinerlei Kippa trugen.»

Von Dreyfus über Pétain bis in die Banlieue

Genaue Zahlen über den jüdischen Exodus kennt niemand, denn Frankreich führt aus Prinzip keine ethnischen oder religiösen Statistiken. Unbestreitbar ist: Seit der Dreyfus-Affäre vor gut einem Jahrhundert, und seit den Judenverfolgungen unter dem Vichy-Regime des Zweiten Weltkrieges fühlen sich die französischen Juden – welche die grösste jüdische Gemeinschaft Europas bilden – erstmals wieder bedroht. Existenzbedroht.

epa06631673 A handout photo made available by the 'Union des Etudiants Juifs de France' (Union of French Jewish students, UEJF) on 27 March 2018 shows Holocaust survivor, Mireille Knoll, 85. ...
Mireille Knoll, 85-jährig, mit zahlreichen Messerstichen ermordet.Bild: EPA/UEJF

Heute beginnt in Paris der Prozess gegen den Mörder von Mireille Knoll, einer jüdischen Pariserin, die der KZ-Deportation in Paris 1942 knapp entronnen war. Sie war 2018 von einem Bekannten zu «Allahu Akbar»-Rufen erstochen worden, wobei laut einem Komplizen Geldneid ein Motiv abgab.

Laut der Staatsanwaltschaft spielte Antisemitismus auch bei einem Fall von Homejacking in Livry-Gargan mit. In dem verarmten Vorort im Nordosten von Paris brachen fünf Täter bei jüdischen Rentnern ein. Sie fesselten sie und pressten ihnen mit Schlägen die Kreditkartencodes ab – «weil die Juden Geld haben», wie sie nach ihrer Festnahme aussagten.

Gedenken an Mireille Knoll, 85-jährig, mit zahlreichen Messerstichen ermordet
Gedenken an Mireille Knoll.Bild: keystone

Umstrittener ist der Tod von Sarah Halimi. Die jüdische Rentnerin war von ihrem Nachbar 2017 über den Balkon in den Tod gestürzt worden. Der junge Malier erklärte der Polizei, er habe den «Sheitan» (Teufel) austreiben wollen. Trotz heftiger Proteste der jüdischen Gemeinschaft wurde er für unzurechnungsfähig erklärt und psychiatrisch interniert. Frau Bensignor ärgert sich: «Bei jedem Gewaltakt wird der Antisemitismus zuerst in Abrede gestellt, dann bagatellisiert.»

«Jüdische Bankergauner»

Soeben hat sie Neuigkeiten aus ihrem Herkunftsort Romainville erhalten. In 50 Briefkästen fanden sie Mitte Oktober Kopien alter «Juderei»-Karikaturen, auf die Dinge geschmiert waren wie: «jüdische Bankergauner», oder: «Alles Juden, alles Sozis». Der Täter, laut einer Überwachungskamera ein älterer Mann, klingt eher nach Rechtsextremist als nach Salafist; gefasst ist er noch nicht.

Stella Bensignor seufzt und sagt, sie sei wirklich froh, aus Romainville weggezogen zu sein. «Geflohen», korrigiert sie sich selber.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
So erleben junge jüdische Schweizer Antisemitismus
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
57 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Überdimensionierte Riesenshrimps aka Reaper
26.10.2021 07:38registriert Juni 2016
Die Juden dort sind dreifach bedroht.
Einerseits von Extremen Islamisten, von zunehmendem Rechtsextremismus und von grassierenden Antisemmitischen Verschwörungsmythen.
Schlimm das die Menschen nichts gelernt haben
14213
Melden
Zum Kommentar
avatar
Amarillo
26.10.2021 09:07registriert Mai 2020
Wer kann, der flieht aus diesen Vierteln. Allen voran natürlich die überhaupt noch dort ansässigen Juden, die durch eine unkontrolliert wuchernde islamistische Szene bedroht sind. Das Beigemüse der Kriminalität kommt noch dazu. In Frankreich hat man sich lange etwas vorgemacht in Sachen Integration bzw. geglaubt, mit "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" würden sich dann schon irgendwie alle als "Franzosen" fühlen und den gleichen Werten verpflichtet sein. Und wie überall klappte das auch mit Einwanderern aus aller Welt mehr oder weniger gut. Nur mit einem bestimmten Milieu nicht.
10312
Melden
Zum Kommentar
avatar
Dave 93
26.10.2021 07:25registriert Februar 2021
wenn man sagt das Problem wurde über die Jahre importiert gilt man auch als Rassist. Ich warte darauf, dass solche Zustände auch in den Vororten von Schweizer Städten eintreten
9820
Melden
Zum Kommentar
57
Orbans Verbot war ein Schuss in den Ofen – Pride in Budapest zieht Rekordmassen an
Trotz eines von Ministerpräsident Viktor Orban veranlassten Verbots sind Menschen in nie zuvor gesehener Zahl für die Rechte sexueller Minderheiten durch Budapest gezogen.

Die Veranstalter sprachen von 200.000 Teilnehmern der 30. Budapester Pride-Parade. Medien nannten eine Zahl von mindestens 100.000. Es war die grösste Pride in 30 Jahren und eine der machtvollsten Kundgebungen in der modernen Geschichte Ungarns.

Zur Story