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Taktischer Fehltritt: Macron schliesst Nutzung von Atomwaffen aus

epaselect epa10250414 French President Emmanuel Macron (C) attends a tribute ceremony to veterans of the Algerian war at the Hotel national des Invalides, in Paris, France, 18 October 2022. As part of ...
Macrons Äusserungen zu Frankreichs Atom-Doktrin stiessen auf heftige KritikBild: keystone

Taktischer Fehltritt: Macron schliesst Nutzung von Atomwaffen aus

Frankreich verfügt über die einzigen Atomwaffen der EU-Staaten. Präsident Macron schliesst aber eine Antwort auf einen allfälligen russischen Nuklearangriff aus. Ein taktischer Fehler?
19.10.2022, 08:33
Stefan Brändle, Paris / ch media
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Militärexperten sprechen von «Überraschung», «Lapsus» und «Fehltritt» - begangen durch Emmanuel Macron. Der französische Staatspräsident ist von seiner Funktion her Oberbefehlshaber der Armee und Inhaber des Atomwaffencodes, den auf früheren Präsidialreisen jeweils ein Uniformierter im Köfferchen mittrug. Frankreich verfügt über rund 300 atomare Sprengköpfe, transportiert auf vier U-Booten und zu einem geringen Teil durch Rafale-Kampfflugzeuge.

Das ist gerade mal ein Zwanzigstel des amerikanischen (6200 Nuklearköpfe) oder russischen (5500) Bestandes. Für die atomare Abschreckung genügen die 300 französischen und 200 britischen Atomwaffen trotzdem: Jede einzelne hat eine nahezu zehnmal so starke Sprengkraft wie die Atombombe von Hiroshima im Jahr 1945.

Rein defensiver Zweck

Die nukleare «Force de Frappe» Frankreichs hat, wie schon ihr Begründer Charles de Gaulle 1960 betonte, einen ausschliesslich defensiven Zweck. Das bestätigte auch Emmanuel Macron, der vergangene Woche dazu am Fernsehen befragt wurde, seitdem der russische Präsident Wladimir Putin implizit mit einem Nuklearschlag droht.

«Le Terrible»: Eines der vier Atom-U-Boote Frankreichs, hier bei der Einweihung durch Präsident Sarkozy 2008
Eines der vier französischen U-Boote, die Atomsprengköpfe tragen können – hier von Präsident Nicolas Sarkozy 2008 eingeweiht.bild: keystone

Macron erklärte, das französische Atomwaffenarsenal könne nach geltender Doktrin nur zum Einsatz kommen, wenn «fundamentale Interessen der Nation» bedroht seien. «Und das wäre keineswegs der Fall, wenn es zum Beispiel einen ballistischen nuklearen Angriff auf die Ukraine oder die Region gäbe», führte er aus.

Als die Journalistin nachfragte, ob die französischen Nuklearwaffen also nicht zum Einsatz kämen, wenn Russland im Kriegsgebiet Atomsprengköpfe zünde, bestätigte er: «Das ist ganz klar nicht unsere Doktrin.»

Bewusste Ambivalenz

Die Aussage sorgt erst verzögert für Reaktionen - die dafür umso deutlicher ausfallen. Die Pariser Zeitung «Le Monde» bezeichnete die präsidiale Klarstellung als «überraschend» und als «Fehltritt».

Dieses Urteil rührt nicht daher, dass irgendjemand in Frankreich für den Einsatz von Atomwaffen wäre. Vielmehr beruht die Dissuasion darauf, dass der Einsatz offen gelassen wird. Wie andere westlichen Nukleardoktrinen beruht deshalb auch die «Force de Frappe» auf dem Prinzip der «strategischen Ambivalenz».

FILE - Russian President Vladimir Putin, right, and North Korea's leader Kim Jong Un shake hands during their meeting in Vladivostok, Russia, April 25, 2019. As North Korea conducts more powerful ...
Zündler unter sich: Nordkoreas Diktator Kim Jong-un und der russische Präsident Wladimir Putin, hier bei einem Treffen im Jahr 2019, könnten Atomwaffen einsetzen.Bild: keystone

Der Armee nahestehende Portale fragen sich, ob der Präsident einen «Lapsus» begangen habe oder ob er daran sei, die französische Nukleardoktrin zu ändern. Die Plattform «Zone Militaire» vermutet, dass sich Macron «verheddert» habe. Denn zugleich erklärte er:

«Die vitalen Interessen Frankreichs haben heute auch eine europäische Dimension.»

Das würde einen Einsatz in ganz Europa ermöglichen. Ob Macron mit «europäisch» aber nur die EU oder den ganzen Kontinent meinte, präzisierte er nicht. Seine Vorgänger Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy und François Hollande hatten diese europäische Komponente stets auf die EU bezogen. Sarkozy bot den französischen Nuklearschirm auch Kanzlerin Angela Merkel an; die deutsche Staatsführung zeigte sich allerdings nicht interessiert.

Druck auf den roten Knopf

Daran scheint der Krieg in der Ukraine kaum etwas zu ändern. Berlin zog es diese Woche vor, mit 14 Nato-Staaten an der nuklearen Jahresübung des Nordatlantikpaktes in Belgien und Grossbritannien teilzunehmen. Das Nato-Mitglied Frankreich blieb dem jährlichen, seit 2021 geplanten Luftwaffenmanöver wie üblich fern.

Der Grund dafür liegt darin, dass die französische «Force de Frappe» - wie auch die britische Nuklearabschreckung - letztlich nur national ausgerichtet ist. Das äussert sich darin, dass der französische Präsident in Paris allein über den Druck auf den roten Knopf entscheidet.

Die schweizer Fussball-Nationalmannschaft protestier 1995 gegen Frankreichs Atomwaffen
Sogar die Schweizer Fussballnationalmannschaft protestierte 1995 gegen französische Atomwaffentestversuche im Südpazifik.bild: keystone

Indem Macron einen Einsatz der «Force de Frappe» von vornherein ausschliesst oder zumindest einschränkt, wollte er zweifellos auch ein Signal nach Moskau schicken. Die gleiche «Deeskalierung» - wie sich französische Diplomaten weiter ausdrücken - strebt er in seinen zahlreichen Telefonaten mit Putin an.

Dass er einen Einsatz der «Force de Frappe» damit im Prinzip ausschliesst, wo er den Sinn der Abschreckung in Frage stellt, beachtete er zweifellos zu wenig. Auf Anfrage beeilen sich Elysée-Sprecher heute zu erklären, der Präsident habe einen Nukleareinsatz nicht völlig ausgeschlossen. Diese Berichtigung kommt aber wohl zu spät. (cpf/aargauerzeitung.ch)

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