Propaganda und Fakes: Russland macht Friedrich Merz zum Nazi-Satan
Es wären weit vorausschauende Pläne für einen Mann, der in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden ist und vor 51 Jahren mit seiner Frau und einem befreundeten Paar und dem Song «Waterloo» eine Weltkarriere startete. «2030», sagt Björn Ulvaeus, Urheber der meisten Welthits von «Abba», in einem Video, «haben wir vor, auf Comeback-Tour zu gehen.» Aber eher nicht nach Deutschland, erklärt er – wegen Friedrich Merz. Und dann sagt die KI-generierte Stimme: «Wenn wir sehen, wie er einen Krieg mit einem Land vorbereitet, das genug Waffen hat, um zehn Länder wie Deutschland zu zerstören ...»
Das Video, in dem Ulvaeus mit den Aussagen zu sehen ist, erschien am 9. September auf X und wurde dort nach einer knapp sechsstelligen Aufrufzahl gelöscht. Die Szenen stammen eigentlich aus einem Video vom November 2024. Da erschien es im offiziellen TikTok-Kanal von «Abba Voyage», einem Spektakel in London, wo Agnetha, Björn, Benny und Anni-Frid als virtuelle «Abbatare» singen. Die veränderte Version auf X ist Teil der russischen «Matryoshka»-Desinformationskampagne mit nachgemachten Videos, die von Bot-Accounts ins Netz gestellt werden.
Es ist ein besonders abwegiges Beispiel, wie Russland die deutsche Regierung darstellt: Aggressive Kriegstreiber, die die Niederlage des NS-Staates gegen die Sowjetunion und die Westallliierten korrigieren wollen und Deutschland auf neue Eroberungen im Osten schicken. Die gegen ein übermächtiges Russland jedoch vernichtend verlieren werden.
Versuch der Rechtfertigung des Ukraine-Überfalls
In anderen Videos werden prominente Kinderbuchautorinnen aus England genutzt, um mit einem erfundenen Text Merz als neuen Hitler darzustellen. Auf Bildern ist der Kanzler mit Hakenkreuz oder mit Teufelhörnern zu sehen. Doch nicht nur im Schatten wird mit Bots und Fakes gearbeitet. Auch das offizielle Moskau strickt an der Erzählung von Deutschland auf dem Weg zu einem aggressiven «Vierten Reich» mit. Russland kehrt um, wer Aggressor ist.
Bereits im Mai hatte das Projekt «EUvsDisinfo» des Europäischen Auswärtigen Dienstes der EU für strategische Kommunikation das Phänomen aufgegriffen: Die Behauptung, das neue «Nazi-Deutschland» träume von einer «antirussischen Revanche», sei «Teil einer Desinformationskampagne, die darauf abzielt, Russlands ungerechtfertigte militärische Invasion in der Ukraine zu rechtfertigen».
Sie reicht sogar noch länger zurück, sagt der US-Amerikaner Kelly Cowan, Mitglied des dTeams, das seit Jahren russische Einflusskampagnen monitort. Das dTeam erstellt täglich Berichte und teilt Funde mit Wissenschaftlern und Journalisten und hat t-online Links zu vielen Postings zu Merz geliefert. «Nach der Besetzung der Krim im Jahr 2014 ging es los, dass Russland die Narrative vom »Vierten Reich« und vom »revanchistischen Deutschland« in seinen Einflussoperationen verwendet hat.» Das stehe in direktem Zusammenhang mit der Darstellung, dass in Kiew ein «Viertes Reich» errichtet worden sei.
Kreml gab Anfang Oktober Dossier über «Achsenmächte» heraus
Das Moskauer Regime spricht inzwischen auch auf offizieller Ebene so: In Deutschland laufe eine Militarisierung und Renazifizierung, sagte Aussenminister Sergej Lawrow Ende September am Rande der UN-Generaldebatte in New York. «Wahrscheinlich mit dem gleichen Ziel, das Hitler hatte: ganz Europa zu unterjochen.» Es ist Russlands Umkehr des Vorwurfs, dass sich das Land für den Angriff auf ein Nato-Land in den nächsten Jahren vorbereitet.
Ein paar Tage nach dem Auftritt legte Lawrows Ministerium einen 105-seitigen Bericht vor, «wie die italienische, deutsche und japanische Regierung den Faschismus und seine Komplizen rehabilitieren». Diese drei Länder zusammenzufassen, ist bereits ein Signal: Sie waren die verbündeten «Achsenmächte» im Zweiten Weltkrieg.
In dem Dossier heisst es: «Die Geschichte wiederholt sich. (...) Die Muster, die sich im nationalsozialistischen Deutschland, im faschistischen Italien und im militaristischen Japan entwickelt haben, finden auch heute Anwendung.» In Deutschland kämen politische Eliten an die Macht, die den Nationalsozialismus rehabilitierten und offen historischen Revanchismus betrieben.
Die Zusammenstellung teils haarsträubender Belege zeigen, wie in Russland eine völlig andere Wahrnehmung von Deutschland erzeugt wird, aber auch, wie in Deutschland nebensächliche Ereignisse in Russland betont werden. Bebildert ist der Report unter anderem mit einem halben Dutzend Bildern von abgemergelten KZ-Insassen und von NS-Erschiessungen.
Baerbock: «Karriere mit Rehabilitierung des Nationalsozialismus»
Die drei Länder werden in dem Papier gezielt an den Pranger gestellt, weil sie gegen eine Schaufenster-Resolution zur «Bekämpfung der Verherrlichung des Nationalsozialismus, des Neonazismus und anderer Praktiken (...)» gestimmt haben. Russland bringt die Resolution in der UN-Vollversammlung jedes Jahr ein. Bis 2021 enthielten sich viele Länder und kritisierten, dass Russland darin Nachbarländern ungerechtfertigt nationalsozialistisches Gedankengut unterstellt. Seit 2022 und Russlands abwegiger Rechtfertigung der «Entnazifizierung» für den Überfall auf die Ukraine stimmen die EU-Länder und Nato-Staaten generell mit «Nein». Im aktuellen Dossier wird Deutschland vorgeworfen, es unterstütze das «Neonazi-Regime in Kiew und den baltischen Staaten».
Dass Deutschland Annalena Baerbock als Präsidentin der UN-Vollversammlung nominierte, ist für Russland der nächste grosse Beleg. Der Bericht verbreitet über die frühere Aussenministerin, sie habe ihre «Karriere auf der Unterstützung und Rehabilitierung des Nationalsozialismus aufgebaut». Seit Jahren thematisieren russische Medien, dass Baerbocks Grossvater Offizier der Wehrmacht war und behaupten, sie wandele auf seinen Spuren.
Ins gewünschte Bild passt, dass unter Baerbock das Aussenministerium empfohlen hatte, bei Gedenkfeiern zum 80. Jahrestag von Kriegsende und Befreiung russische und belarussische Vertreter nicht einzuladen. «Die Enkel der Nazi-Henker», heisst es im Bericht, dürfen «die Nachkommen derer (ausschliessen), die unter dem Verlust von (...) Millionen Menschenleben nicht nur ihr Land, sondern ganz Europa vom Faschismus befreiten.»
Auch Sylt-Video dient als Beleg
«Eklatantes Beispiel für die Verhöhnung des Andenkens an die Opfer des Naziregimes» sei es, dass die Verwaltung der KZ-Gedenkstätte Dachau Bänder in den russischen Farben von Kränzen abgeschnitten hat. Was der Bericht nicht erwähnt: Gedenkzeremonien mit Kranzniederlegung dort sind genehmigungspflichtig, und die Delegationen von Russland und Belarus hatten den Hinweis erhalten, dass Fahnen, Transparente und staatliche Symbole nicht verwendet werden dürfen. Die Gedenkstättenverwaltung griff beim Gedenkakt dennoch nicht ein, sondern entfernte danach die Bänder. So teilte es die Bundesregierung mit, nachdem die AfD den Fall in den Bundestag gebracht hatte.
Auch andere Zwischenfälle dienen als vorgeblicher Beweis: Das Aussenministerium notiert, dass es keine Strafen für die Feiernden gegeben habe, die auf Sylt «Deutschland den Deutschen – Ausländer raus» skandiert hatten. Die Szene aus der Pony-Bar von Pfingsten 2024 war durch ein Video bekannt geworden.
Im ganzen Dokument taucht die AfD namentlich nicht auf – wohl, weil Russland die AfD selbst als unterstützenswert ansieht und sie als eine Art Sprachrohr Russlands auftritt: Die grösste rechtsextreme Partei sei «Heimat», die frühere NPD, heisst es. Zugleich wird aus dem Verfassungsschutzbericht für 2023 das rechtsextremistische Personenpotenzial von 40'000 Menschen angegeben. Nicht erwähnt wird, dass Mitglieder der AfD und der inzwischen aufgelösten Jugendorganisation JA (Junge Alternative für Deutschland) dabei die grösste Gruppe ausmachen.
AfD-naher Verein als Quelle
Die AfD findet sich nur indirekt: Zu «Diskriminierung» russischsprachiger Einwohner «aufgrund ethnischer Gründe» in Deutschland zitiert der Bericht die Organisation «Vadar», die von AfD-Politikern gegründet wurde. Der Vorsitzende dieser «Vereinigung zur Abwehr der Diskriminierung und der Ausgrenzung Russlanddeutscher sowie russischsprachiger Mitbürger in Deutschland» (Vadar), der frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Ulrich Oehme, wird zitiert: laut ihm sei die Sperrung von Bankkonten ein besonderes Problem.
Beklagt wird die «Einschüchterung» von Aktivisten der russischsprachigen Gemeinschaft, die sich gegen die «fortschreitende Dämonisierung Russlands» in Deutschland aussprechen. Deutschland ist nach russischer Darstellung auch auf NS-Kurs, weil die Aktivistin Elena Kolbasnikova und ihr Lebensgefährte Max Schlund vor Strafprozessen aus Köln nach Russland geflohen sind und nicht wieder nach Deutschland einreisen dürfen.
Sie sollen Material für russische Kämpfer im Donbas gesammelt haben. Wegen dieses Verdachts gab es auch Durchsuchungen an Adressen von Mitgliedern des prorussischen Vereins «Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe» im Raum Wandlitz. Das und der Umgang mit russischen Staatsmedien dienen als Belege in der Nazi-Anklage des Aussenministeriums.
In den Tiefen des Netzes wählt Russland aber noch ganz andere Methoden, um Behauptungen in die Welt zu setzen. Dabei geht es etwa um Videos der «Matryoshka»-Kampagne, wie das Abba-Video. Die «Matryoshka»-Beiträge sind mindestens seit September 2023 Teil eines Arsenals, mit dem Russland das Netz mit Desinformation flutet. Zuerst bekannt wurde die «Doppelgänger»-Kampagne, die so heisst, weil dafür die Internet-Auftritte renommierter Medien nachgebaut und mit antiukrainischen und antiwestlichen Inhalten bestückt wurden.
Daneben gibt es «Storm-1516», das bekannt ist für aufwendig konstruierte Fakes mit vermeintlichen Zeugen mit empörenden Schilderungen, über die wenige Wochen zuvor eingerichtete Medien dann berichten. Über Merz war so die Erfindung verbreitet worden, er habe in Kanada bei einer Jagd skrupellos Eisbärenjunge geschossen. Seit Donnerstag wird die Lüge in einem algerischen Fake-Medium verbreitet, dass Merz bei einer Sex-Party von Frankreichs Präsident Macron gewesen sei
KI-Stimme lässt Kinderbuchautorin zum Mord aufrufen
Am aktivsten ist aber die «Matryoshka»-Kampagne mit täglichen Videos, die von Fake-Accounts gepostet und als Antworten verbreitet und von Bots weitergegeben werden. Dort waren Merz und das Nazi-Thema in den vergangenen Monaten mehrfach der Schwerpunkt. «Auf internationaler Ebene ist der Vergleich moderner deutscher Politiker und Institutionen mit Nazis ein Mittel, um Deutschland auf der Weltbühne zu delegitimieren», erklärt dTeam-Experte Kelly Cowan. Beispiele für die extremen Lügen unter Tarnkappe, die alle bei der Verbreitung ein charakteristisches Muster erkennen lassen, sind folgende:
- In zwei Videos liessen die Macher die bekannten britischen Kinderbuchautorinnen Jacqueline Wilson ("Tracy Baker"-Reihe) und Cressia Cowell ("Drachenzähmen leicht gemacht") mit KI-generierter Stimme erzählen, Merz sei der Bösewicht aus Kinderbüchern. Die Rede ist von "Merz' blutrünstigem Regime", während Russland Frieden wolle. Wilson wird sogar ein Aufruf untergeschoben, die Deutschen sollten das Land verlassen oder Merz per Attentat stoppen.
- In einem Video mit ARD-Logo wird behauptet, im November 2025 beginne eine Massenuntersuchung von wehrfähigen Männern zwischen 15 und 50, weil Merz Krieg wolle.
- In einem Video mit dem Logo der Nachrichtenagentur AFP wird behauptet, in Deutschland würden Übergriffe auf französische und polnische Touristen stark zunehmen – als Ausdruck früherer Feindschaften, die in der Bevölkerung wieder durchbrechen.
- Ein Video, angeblich von "USA Today", erklärte, Merz Zustimmungswerte seien um sechs Prozent gefallen, nachdem er mit Kippa Redner bei der Wiedereröffnung einer Synagoge in München war. Hier ist nicht Merz persönlich das Ziel. Ein Experte des Center for Jewish History in New York wird mit dem erfundenen Zitat gezeigt, das sei ein klares Zeichen, dass der Nationalsozialismus in Deutschland nicht bewältigt sei.
- In einem einem Video mit den gleichen Szenen, angeblich von der "Times of Israel", wurde wieder Merz selbst angegangen: Für Israel sei Merz' Rede der Versuch eines Nazis, Juden zu überzeugen, dass Duschen nur Duschen sind. Damit wird auf Gaskammern angespielt. Dann folgt ein erfundenes Zitat einer Holocaustopfer-Organisation: Merz müsse seine "revanchistischen Ideen eines Kriegs mit Russland" aufgeben, weil Menschen mit solchen Ideen die Juden getötet hätten.
- Ursula von der Leyen sei als Bundespräsidentin vorgesehen, weil sie Merz' "revanchistische Ideen" und die von Russland behauptete Absicht teile, einen neuen Krieg gegen Russland zu starten: Zu sehen in einem Video mit dem Logo von "Politico".
Diese Fake-Videos erreichen selten sechsstellige Abrufzahlen und es ist unklar, wie viele von diesen Aufrufen selbst auf Bots zurückgehen. Primäre Zielgruppe sind aus Sicht von Kelly Cowan Personen von den politischen Rändern. Aber auch uninformiertes, unpolitisches Publikum sei ein wichtiges Ziel: «Menschen, bei denen sich Botschaften am leichtesten ins Unterbewusstsein einpflanzen lassen, weil sie Inhalte konsumieren, ohne sich endgültig darüber zu entscheiden.»
Verwendete Quellen:
- Eigene Recherchen
- mid.ru: Bericht des Aussenministeriums der Russischen Föderation (russisch, archiviert)
- bundestag.de: Antwort auf eine Frage des AfD-Abgeordneten Matthias Moosdorf zur deutschen Abstimmung in der UN-Vollversammlung
- europa.eu: Erklärung der EU zur Abstimmung in der UN-Vollversammlung

