Nach vier Jahren Krieg: Europas Moment der Wahrheit ist gekommen
Weihnachten steht von der Tür. Doch die Besinnlichkeit ist weit entfernt. Hektik, Unsicherheit und Kriegsangst bestimmen den europäischen Alltag. Man muss es leider so sagen.
In der Ukraine tobt der Krieg mit unverminderter Gewalt. Und auch auf dem politischen Parkett muss das angegriffene Land in diesen Tagen um sein Überleben kämpfen.
US-Präsident Donald Trump ist fest entschlossen, eine Entscheidung zu erzwingen. Nach intensiven Wochen der Gespräche zwischen Kiew und Washington könnte es jetzt so weit sein.
Unklar ist, welchen Preis die Ukrainer zahlen müssen. Noch sind die wichtigen Territorialfragen offen. Aber Kiew kommt nicht darum herum, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Die Amerikaner mögen versteckte Absichten haben, und bleiben doch für die Ukrainer unverzichtbar. Wie viel Territorium muss die Ukraine abgeben? Und unter welchen Umständen?
Für Europa ist das Resultat der Verhandlungen von herausragender Bedeutung. Die Weichen, welche jetzt gestellt werden, werden den Kontinent auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, hinaus prägen. Das ist keine Übertreibung.
Man muss nicht lange in der Geschichte suchen, um die Tragweite zu erkennen. Das Münchner Abkommen von 1938 sollte Frieden sichern, indem man einem Aggressor territoriale Zugeständnisse machte. Das Ergebnis war das Gegenteil: Es ermutigte Hitler und bereitete den nächsten Krieg vor.
Bekommt Russlands Diktator Wladimir Putin, was er will, und da sind sich viele mittlerweile einig, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis er zum nächsten Angriff losschlägt. Und dann? Dann sind vielleicht auch wir dran.
«Wir sind Russlands nächstes Ziel», warnte Nato-Generalsekretär Mark Rutte letzte Woche. Zwar hat ihn niemand gefragt, ob mit «wir» auch die Schweiz mitgemeint war. Aber warum sollte unser Land im Herzen Europas verschont bleiben? Etwa, weil bei uns der Krieg in der Ukraine auf dem zehnten und damit letzten Platz im Sorgenbarometer landet?
In unserem Nachbarland jedenfalls stellt der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz schon jetzt die Frage, ob man später einmal wird sagen können, man habe alles Mögliche getan, um Freiheit und Frieden in Europa zu sichern.
Haben wir das? Die ehrliche Antwort lautet: Wohl kaum. Europa ist bei der Verteidigung der ukrainischen Freiheit unter seinen Möglichkeiten geblieben.
Das liegt daran, dass Europa ein Schönwetterprojekt ist. Offene Grenzen, offene Märkte, offene Gesellschaften. Bricht aber die Krise aus, wird der Vorteil zur Schwäche. Die politische Komplexität und der ständige Zwang zum Konsens verhindern entschlossenes Handeln dort, wo es nötig wäre. Europa, oder besser gesagt die EU, ist in dieser Hinsicht der Schweiz vielleicht ähnlicher, als es mancher Schweizerin und manchem Schweizer lieb wäre.
Aber Europa kann es sich nicht leisten, eine grosse Schweiz zu sein. Will es selbst über sein Schicksal entscheiden, muss es sich beweisen. Der Moment dazu ist jetzt.
Am kommenden Donnerstag und Freitag treffen sich die EU-Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Es wird der wahrscheinlich folgenschwerste Gipfel seit der Euro-Krise sein. Auf dem Programm steht die für die Ukraine lebensnotwendige Finanzierung der kommenden Monate und Jahre.
Die Lage ist ernst. Zahlt Europa nicht, zahlt niemand. Schon gar nicht die Amerikaner. Aber die Kassen der Hauptstädte sind leer. Deshalb soll nun erstmals überhaupt das in Europa blockierte Vermögen der russischen Zentralbank eingesetzt werden.
Die Hürden dazu sind hoch. Nationale Egoismen blockieren bisher eine Einigung. Aber es gibt kein Entrinnen. Denn es geht nicht nur um die Finanzhilfen. Schaffen es die europäischen Staatenlenker jetzt nicht, vom Reden ins Handeln zu kommen, wäre der politische Flurschaden komplett. Das Signal an Kiew, aber auch an Washington, Moskau und alle anderen, die sich noch für Europa interessieren, wäre eindeutig: Mit uns braucht ihr nicht mehr zu rechnen. Wir verabschieden uns. Der letzte macht das Licht aus.
Noch ist es nicht so weit. Weihnachten ist auch die Zeit der Hoffnung. Und zuversichtlich stimmen mag, dass es Europa in den letzten Krisen doch immer irgendwie geschafft hat. Während der Euro-Krise, während der Covid-Krise: Beide Male stand man schon mit einem Bein im Abgrund. Und doch fand man stets einen Ausweg.
Vergangene Woche sagte US-Präsident Donald Trump, der alte Kontinent werde von Schwächlingen regiert. Es liegt nun an den politischen Verantwortlichen, das Gegenteil zu beweisen. Sie sind es der eigenen Bevölkerung schuldig. Und vor allem auch der ukrainischen. (aargauerzeitung.ch)
