Die 12-jährige Amy Khvitia schaut im Fernsehen ihre Lieblingssendung Georgia's Got Talent. Sie reibt sich die Augen, als ein Mädchen zu tanzen beginnt, das aussieht wie sie.
Bei Amys Mutter klingelt ununterbrochen das Telefon. Bekannte wollen wissen, warum Amy im Fernsehen unter anderem Namen tanzt. «Jeder hat einen Doppelgänger», antwortet die Mutter.
Sieben Jahre später ist es Ano, das Mädchen aus der Castingshow, das Amy aufspürt und kontaktiert. Aufmerksam geworden auf ihre Doppelgängerin ist sie durch ein TikTok-Video.
Amy reibt sich erneut die Augen. Sofort erinnert sich an den Moment, als die Ähnlichkeit des Mädchens sie verblüffte.
Abgesehen von ihrer Ähnlichkeit stellen die beiden fest, dass sie viele Gemeinsamkeiten haben. Sie mögen dieselbe Musik, tanzen gerne und litten an einer gleichartigen, genetischen Krankheit. Je mehr die beiden zusammen schreiben, desto näher rückt die Frage:
Die beiden finden heraus, dass sie im selben Entbindungsheim Kirtskhi in Westgeorgien geboren worden, doch ihre Geburtstage liegen mehrere Wochen auseinander. Zwillinge können sie also nicht sein. Oder doch?
Erst als sie ihre Eltern damit konfrontierten, erfuhren sie, dass sie als Säuglinge adoptiert wurden. Die Adoptiveltern sollen weder davon gewusst haben, dass es sich um Zwillinge noch dass es sich bei der Adoption um eine illegale Praxis handelte – obwohl sie viel Geld für die Kinder bezahlt hätten.
Amy macht sich online auf die Suche nach ihrer biologischen Mutter – mit Erfolg. Eine junge Frau aus Deutschland meldet sich. Ihre Mutter sei 2002 im Kirtskhi-Krankenhaus während der Geburt ins Koma gefallen. Man habe ihr dann mitgeteilt, dass die Zwillinge gestorben seien.
Ein DNA-Test ergibt, dass die junge Frau tatsächlich die Schwester der Zwillinge ist. Trotz gewisser Vorbehalte, dass die leibliche Mutter ihre eigenen Kinder möglicherweise verkauft hat, stimmten Amy und Ano einem Treffen zu.
Gefunden hat Amy ihre Schwester durch eine Facebook-Gruppe mit mehr als 230'000 Mitgliedern, die von der georgischen Journalistin Tamuna Museridze ins Leben gerufen wurde. Museridze ist selbst adoptiert worden und erzählt in einer BBC-Dokumentation, wie sie auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter auf den illegalen Babyhandel aufmerksam wurde. Der Handel soll zwischen den frühen 1950er Jahren bis 2005 floriert haben.
Eine genaue Bezifferung sei allerdings unmöglich, da viele Dokumente nicht mehr existieren würden. Den Eltern sei – genauso wie bei der Mutter von Amy und Ano – mitgeteilt worden, dass ihr Kind gestorben sei. Es war ihnen nicht erlaubt, sich vom verstorbenen Baby zu verabschieden.
Wer es sehen wollte, so Museridze, dem wurde lediglich ein Bild eines toten Säuglings gezeigt. Die Journalistin geht davon aus, dass damals Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft am Handel beteiligt waren – von Taxifahrern bis hin zu korrupten Beamten.
2005 wurde in Georgien das Adoptionsgesetz verschärft, um einem möglichen Menschenhandel entgegenzutreten. 2022 leitete die georgische Regierung eine Untersuchung zum Kinderhandel in Auftrag.
Tamuna Museridze versucht indes, einige Fälle vor Gericht zu bringen, um an weitere Dokumente zu kommen. Noch immer sucht sie nach ihrer leiblichen Mutter, um ihre eigene Geschichte, ihr eigenes Schicksal, aufzurollen. (cst)
Erschreckend ist die Dunkelziffer der betreffenden Menschen. Wer weiß wie viele Schicksale davon betroffen sind.